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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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schweißüberströmt, und das Schlimme war, dass er den Traum weiterträumen musste – hellwach und mit geöffneten Augen. Auch verblassten die Bilder nicht mit den Jahren, sondern wurden jedes Mal intensiver: das schreiende Mädchen, das aus dem Haus lief, ihr brennendes Kleid und der Schuss, der sie mitten ins Gesicht traf.
    Seine Spezialeinheit hatte die Rothemden spät in der Nacht in einem Bauernhaus südlich des Gardasees zusammengetrieben und das Gebäude umstellt. Er hatte genug Leute, um sie am Ausbrechen zu hindern, aber zu wenig, um sie zur Kapitulation zu zwingen. Einen Sturm wollte er nicht riskieren, denn es hielten sich noch eine Frau und ein Mädchen im Haus auf. Also hatte er einen seiner Männer ins nahegelegene Stabsquartier geschickt, um Unterstützung anzufordern. Er glaubte, dass sich die Rothemden ange sichts der klaren Übermacht ergeben würden. Was dann aus ihnen werden würde, blieb im Ungewissen – oft kannte die kaiserliche Armee kein Pardon mit den Freischärlern Garibaldis –, aber wenigstens würde der Frau und dem Mädchen nichts geschehen. Mehr konnte er nicht tun. Nicht dass ein paar gefangene oder erschossene Rothemden jetzt noch einen großen Unterschied gemacht hätten. Die kaiserliche Armee war vor zwei Tagen bei Solferino vernichtend geschlagen worden, und alle wussten, dass der Krieg verloren war. Aber die Entscheidung, sich zurückzuziehen, hätte auf einer höheren Ebene fallen müssen. Er selbst hatte keinen Handlungsspielraum.
    Die Verstärkung erreichte sie im Morgengrauen: ein Detachement Linzer Dragoner, zwei Dutzend Berittene in abgerissenen Uniformen, geführt von einem Oberleutnant Kurtz, der sofort das Kommando übernahm. Kurtz weigerte sich, mit den Rothemden zu verhandeln. Erst schossen seine Leute das Dach des Hauses in Brand, dann feuerten sie auf die Rothemden, die aus dem brennenden Haus liefen, zum Schluss erschossen sie die Frau und das Mädchen.
    Das Militärgericht, das ihn drei Monate später wegen Insubordination verurteilte – er hatte Oberleutnant Kurtz einen Faustschlag ins Gesicht versetzt –, beschränkte sich darauf, ihn zu degradieren. Aus der Armee hatte man ihn nicht entlassen, weil man ihn weiterhin für Spezialfälle brauchte – für Einsätze, die er meist alleine ausführte.
    In Verona hatte er einen Mann getötet, der Knallquecksilber in seinem Keller herstellte, in Bad Ems hatte er Unterlagen aus dem Schlafzimmer eines preußischen Generals gestohlen, in St. Petersburg einen Attaché erschossen, der militärische Geheimnisse an die Russen verkaufen wollte.
    Er hatte festgestellt, dass ihm die Virtuosität, mit der er sei ne Missionen ausführte, Befriedigung verschaffte und dass ein Auftrag ihn umso mehr reizte, je undurchführbarer er erschien und je gefährlicher er war. Außerdem war zwischen ihm und der kaiserlichen Armee noch eine Rechnung offen, die er bei passender Gelegenheit begleichen musste.
    Seit ein paar Jahren kursierte sein Name in den Offizierskasinos wie die Adresse eines guten Restaurants, und vermutlich war das der Grund gewesen, aus dem Oberst Hölzl vor zwei Wochen in seiner Grinzinger Wohnung aufgetaucht war. Er hatte sich den Vorschlag des Obersts ohne eine Miene zu verziehen angehört und nach kurzer Bedenkzeit zugesagt. Es war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte.
    Er drehte sich zur Seite, tastete fluchend nach den  Streichhölzern und entzündete die Petroleumlampe auf dem Tisch neben seinem Bett. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Er steckte sich eine Zigarette an und spürte erleichtert, wie die Bilder in seinem Kopf anfingen zu verblassen. Die kleine Wohnung im Erdgeschoss, bestehend aus einem Zimmer und Küche und direkt an den Fondamenta degli Incurabili gelegen, gefiel ihm. Jetzt war die Aussicht vor seinem Fenster schwarz, doch tagsüber blickte er auf den Giudecca-Kanal, auf Segel-und Dampfschiffe. Er bedauerte es, dass er gezwungen war, die Stadt in einer guten Woche wieder zu verlassen.
    Vermutlich, dachte er, hatten sie ihn gestern die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Sie waren auf dem Perron gewesen, als er aus dem Zug gestiegen war. Sie kannten seine Abteilnummer, außerdem war er leicht an der schwarzen Armbinde und dem Giornale di Verona zu erkennen. Dann hatten sie beobachtet, wie er mit den Männern vom Gepäckwagen verhandelt hatte, und schließlich, wie er eine halbe Stunde später den beiden schwarzgekleideten Burschen aus San Michele die Fracht übergeben hatte –

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