Die Masken von San Marco
die Fracht, deren Beschaffenheit es verbot, sie über Nacht auf dem Bahnhof zu verwahren, und die deshalb einen unverzüglichen Weitertransport auf die Toteninsel erforderte.
Nachdem die Gondel mit dem Sarg beladen worden war, hatte sich ihm ein hinkender Mann genähert. Er hatte ihn angesprochen, ihm zum Tod seines Vaters kondoliert und ihm ein privates Quartier angeboten. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, dass eine Parole vereinbart worden war, die er nicht kannte. Er hatte geantwortet, dass er mit einem privaten Quartier einverstanden sei, und zu seiner Erleichterung hatte sich der Mann damit zufriedengegeben.
Auf der Fahrt zu seiner Unterkunft hatten sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht. Wie groß die Gruppe der venezianischen Verschwörer war, wann und wo die Bombe in die Luft gehen würde, hatte der Mann ihm nicht verraten.
Er hatte nur gesagt, dass die Beerdigung am nächsten Tag stattfinden würde und dass sie den Inhalt des Sarges ohne ihn bergen würden.
Aber er würde es bald erfahren – auf jeden Fall rechtzeitig genug, um der venezianischen Polizei auf die Sprünge zu helfen. Wenn es denn überhaupt notwendig war, denn die hiesige Polizei hatte einen guten Ruf und war ehrgeizig.
Oberst Hölzl hielt es für unwahrscheinlich, dass sich die Questura sofort an den Stadtkommandanten wenden würde. Die zivile Polizei würde den Ehrgeiz haben, den Bären selbst zu erlegen. Die Versuchung, der Kommandantura das Fell wegzuschnappen, war einfach zu groß.
Harte, militärisch klingende Schritte näherten sich dem Fenster seiner ebenerdigen Wohnung, und seine Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten zwei Silhouetten. Er vermutete, dass es sich um kroatische Jäger aus der nahegelegenen Kaserne handelte, die auf der Fondamenta degli Incurabili patrouillierten. Instinktiv trat er in den Raum zurück, obwohl die Soldaten nichts anderes sehen würden als einen beliebigen Mann, der nicht schlafen konnte und eine Zigarette rauchte.
Den heutigen Tag hatte er damit verbracht, ziellos durch die Stadt zu laufen und immer wieder in das Labyrinth von kleinen calle und salizzade einzutauchen, in denen jemand, der die Stadt gut kannte, spurlos verschwinden konnte. Zu Mittag hatte er im Café Florian eine Kleinigkeit gegessen und sich anschließend unter die Menschen auf der Piazza gemischt. Dort, wo man die Tribüne für den Kaiser aufschlagen würde, war er stehengeblieben und hatte einen professionellen Blick zu den gegenüberliegenden Dächern geworfen. Es gab mindestens ein halbes Dutzend Positionen, aus denen er feuern konnte. Die Distanz war keine Schwierigkeit – nicht mit der Waffe, die er benutzen würde. Der Fluchtweg war das Problem, aber er hatte eine gute Woche Zeit, um eine Lösung zu finden. Entscheidend war, dass er den Ort kannte und am nächsten Montag den genauen Zeitpunkt erfahren würde. Er musste also nur im richtigen Moment den Abzug durchziehen – und sich anschließend aus dem Staub machen. Oberst Hölzl würde später einiges zu erklären haben, aber das konnte ihm egal sein.
Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette, schnippte das Ende aus dem Fenster und beobachtete den Bogen, den die glühende Kippe beschrieb, bevor sie funkensprü hend auf den Fondamenta landete. Dann schloss er den Fensterflügel und ging wieder zu Bett. Ein paar Minuten später war er eingeschlafen.
9
Als Tron am nächsten Morgen kurz nach elf sein Büro in der Questura betrat, lag der Bericht von Dr. Lionardo bereits auf seinem Schreibtisch – zwei Seiten, niedergeschrieben in der akkuraten Handschrift seines Assistenten. Der Sektionsbericht des dottore stellte fest, dass der Tote kein Wasser in der Lunge hatte und dass sein Ende tatsächlich durch einen gewaltsamen Bruch des Halswirbels herbeigeführt worden war. Was nichts anderes bedeutete, als dass der Mann ermordet worden war und der Täter die Leiche anschließend in die Lagune geworfen hatte. Damit war Trons Theorie, es könne sich auch um einen Unfall gehandelt haben, nicht mehr zu halten.
Tron, der den Bericht noch im Stehen überflogen hatte, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und legte die Beine auf die Tischplatte, um der Kälte zu entkommen, die der eisige Terrazzofußboden ausstrahlte. Es hatte bereits den ganzen Vormittag lang geregnet, und jetzt fegte ein eisiger Ostwind das Regenwasser gegen die Fenster, ließ es durch die Dichtungen sickern und von den Fensterbrettern herab auf den Fußboden tropfen. Dort
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