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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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was ich merkwürdig finde? Dass der Tote ausgerechnet dieses Eisenbahnbillett in seiner Westentasche hatte. Keine anderen Papiere – nur dieses Billett.»
    «Wenn der Täter die Leiche in die Lagune werfen wollte, konnte er den Mord nur in den knappen fünf Minuten begehen, die der Zug braucht, um die Brücke zu überqueren. Immerhin hätte in Marghera, kurz vor der Brücke, noch jemand zusteigen können. Er stand unter Zeitdruck und hat das Billett einfach übersehen.»
    «Oder der Tote hat die Bahn überhaupt nicht benutzt», warf Tron ein.
    Bossi runzelte die Stirn. «Wie?»
    «Der Mann ist überhaupt nicht in der Eisenbahn ermordet worden», sagte Tron. «Vielleicht nicht einmal in Venedig. Man hat ihm das Billett in die Tasche gesteckt, um eine falsche Spur zu legen.»
    «Halten Sie das für möglich?»
    «Ich halte es für möglich, aber ich behaupte nicht, dass es so war», sagte Tron. «Auf jeden Fall scheint mir diese Version wahrscheinlicher als ein geheimnisvoller Auftragsmord in der Eisenbahn. Wir sind hier nicht in einem Roman, Bossi.»

    «Und was machen wir jetzt?»
    «Sind das die Fotografien?» Tron deutete auf den braunen Umschlag. Bossi nickte.
    Tron holte einen der kartonstarken Bogen im Atelier format heraus. Wie jedes Mal, wenn er auf eine Fotografie blickte, hatte er das Gefühl, etwas zu betrachten, das aus einer anderen, längst vergangenen Zeit stammte, was schon deshalb nicht sein konnte, weil es die Kunst der Fotografie noch gar nicht so lange gab.
    Der Mann hatte ein unauffälliges, glattrasiertes, vielleicht ein wenig feistes Gesicht; es blieb unklar, wie stark die Berührung mit dem Wasser seine Gesichtshaut aufgeschwemmt hatte.
    Tron zuckte die Achseln. «Ich schlage vor, dass Sie mit diesen Bildern nach Verona fahren, Bossi.»

10
    Der Regen und der Wind überfielen die Gondel plötzlich von allen Seiten, und Boldù lehnte sich unwillkürlich in den Polstern zurück. Heftige Böen trieben weiße Schaumkronen auf die Wellen, und der Regen sorgte dafür, dass die Segelschiffe, an denen sie vorüberglitten, nur hinter einem Vorhang aus nasser Luft zu erkennen waren. Beunruhigend war, dass der felze, das schwarze quadratische Gondelverdeck, unter dem sie saßen, den Wind wie ein Segel auffing und ihre Gondel bei jedem Windstoß gefährlich krängen ließ. Boldù fragte sich, ob es vorgekommen war, dass Gondeln im Giudecca-Kanal in Seenot gerieten.

    Und dann fragte er sich, ob der Mann, der schweigend an seiner Seite saß und sich Rossi nannte, schwimmen konnte.
    Rossi hatte ihn kurz vor zwei Uhr an der Fondamenta  degli Incurabili abgeholt und schien entschlossen, ihn erst am Ziel der Fahrt in seine Aufgabe einzuweihen – was immer dieses Ziel war und worin auch immer seine Aufgabe bestehen würde. An diesem Punkt waren die Auskünfte, die Oberst Hölzl ihm gegeben hatte, etwas unbestimmt gewesen. Er würde notfalls gezwungen sein zu improvisieren.
    Die Konversation in der Gondel hatte sich auf das Nö tigste beschränkt. Rossis Neugier auf seine Person schien sich in Grenzen zu halten, er hatte ihm kaum Fragen gestellt. Allerdings, sagte sich Boldù, gehörte es zu den Regeln seines Metiers, sich mit Fragen zurückzuhalten, und so hielt auch er sich zurück.
    Als sie die Punta di Santa Marta erreicht hatten – sie waren den Giudecca-Kanal nach Westen gefahren –, hörte der Regen plötzlich auf, und auch der Wind flaute ab. Auf der rechten Seite erstreckte sich jetzt der Campo di Marte, der Exerzierplatz, und vor ihnen lag die winzige Isola di Santa Chiara. Links davon sah Boldù die von der regnerischen Luft verschleierte Eisenbahnbrücke, die den Bahnhof mit dem Festland auf der anderen Seite der Lagune verband.
    Die Brücke aus dieser völlig ungewohnten Perspektive zu sehen – in diesen Teil Venedigs stießen Fremde normalerweise nie vor – erheiterte Boldù grundlos.
    Ein knappes Dutzend ausrangierter Schiffe ankerte vor der Isola di Santa Chiara. Beim Näherkommen erkannte Boldù, dass sie einigen Venezianern als Quartier dienten, bevor man sie abwrackte: hüttenbesetzte Schuten, auf denen Lagerfeuer brannten, mit provisorischen Aufbauten versehene Segelschiffe, denen die Takelage fehlte. Zwei Lastensegler waren miteinander vertäut und schienen eine größere Anzahl von Menschen zu beherbergen. Boldù hörte Kindergeschrei und Hundegebell. Ein paar Männer in abgerissener Kleidung standen an der Reling und angelten.
    Als die Gondel die Schiffe passierte, drehten sie

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