Die Masken von San Marco
misstrauisch die Köpfe.
Der Raddampfer, den die Gondel auf Rossis Anweisung hin ansteuerte, lag am Rand dieser bizarren Siedlung, halb verdeckt von einer mastlosen Brigg, deshalb hatte ihn Boldù nicht sofort bemerkt. Es war ein Seitenraddampfer, der irgendwann Schornstein, Reling und Flaggenmasten verloren hatte. Am Bug zog sich, wie eine schlecht verheilte Wunde, ein langer, offenbar von innen abgedichteter Riss über die hölzernen Wanten. Der Dampfer sah aus wie ein Schiff, das nur ein Wunder davor bewahrt hatte, auf den Meeresgrund zu sinken.
Die Gondel glitt näher, und kurz vor dem Anlegen las Boldù auf einem der großen Kästen, unter denen sich frü her die Schaufelräder gedreht hatten, den Namen des Schiffes: Patna. Boldù fand, der Name hörte sich indisch an.
Als sie das morsche Fallreep am Heck emporgeklettert waren und auf dem Deck der Patna standen, sah er, dass selbst die Bewohner der bizarren Wassersiedlung es als Behausung verschmäht hätten. Nicht nur die Reling war verschwunden, sondern auch das Schanzkleid existierte nicht mehr. Dem Ruderhaus fehlten Dach und Tür, und die Deckplanken waren mit Abfall übersät. Lediglich die vorderen, durch einen kleinen Niedergang zu erreichenden Deckaufbauten schienen intakt zu sein. Boldù fiel auf, dass keines der Oberlichter aus Milchglas zerbrochen war.
Vor der Tür der Deckaufbauten blieb Rossi stehen, klopfte dreimal und wartete. Einen Augenblick später steckte ein jüngerer Mann, der ein großes Messer in der Hand hielt, den Kopf heraus, nickte und trat dann zur Seite, um Rossi und Boldù einzulassen.
Der Innenraum war größer, als Boldù erwartet hatte, und mochte in den guten Zeiten der Patna das Bordrestaurant des Schiffes gewesen sein. Im Gegensatz zum schmutzstarrenden Deck war der Fußboden hier sauber, es roch leicht nach Desinfektionsmittel, fast wie in einem Lazarett.
Direkt unter dem Oberlicht stand ein gewaltiger Arbeitstisch mit einem Stapel Pappe, daneben eine Apparatur, deren Funktion Boldù ebenso schleierhaft war wie der Verwendungszweck der Pappe. Die primitive Maschine bestand aus zwei Holzblöcken, auf denen eine drehbare Walze befestigt war. An einem Ende der Walze befand sich eine Kurbel. Boldù musste unwillkürlich an einen Bratenwender denken.
Rossi drehte die Kurbel, um zu demonstrieren, wie leicht sich die Walze bewegen ließ. «Für die Herstellung von Hülsen», sagte er. «Damit geht es schneller und genauer. Unser Material reicht für zweihundert Füllungen.
Und aus einem Bogen machen wir vier Wandungen.»
Füllungen? Wandungen? Boldù verstand noch immer nicht, was genau hier fabriziert wurde, hielt es aber für klü ger, keine Fragen zu stellen.
«Dann zeige ich Ihnen jetzt», fuhr Rossi fort, «wo wir den Satz mischen und die Füllung vornehmen. Kommen Sie.»
Rossi öffnete eine Tür am hinteren Ende des Raumes,
die zu einer weiteren Kajüte führte. Auf der Backbordseite registrierte Boldù drei – offenbar nachträglich eingebaute – Fenster. Sehen konnte man nichts dadurch, denn auch ihre Scheiben bestanden aus Milchglas.
Unter dem Oberlicht stand ebenfalls ein großer Holztisch, nur dass diesmal auf ihm zwei große, mit hölzernen Latten eingefasste Marmorplatten lagen. Darauf konnte man das Mischungsverhältnis des Schießpulvers verändern: aus Jagdpulver durch die Veränderung des Salpeter-und Schwefelanteils Sprengpulver machen oder umgekehrt. Boldù hatte keine Ahnung, was für eine Sorte Schießpulver er nach Venedig gebracht hatte, aber offenbar musste es hier noch einmal modifiziert werden, um anschließend – zu welchem Zweck auch immer – in die Hülsen gefüllt zu werden.
«Das Material», sagte Rossi, indem er seinen Zeigefinger auf zwei große Kisten richtete, die neben dem Tisch standen, «ist in diesen Behältern.»
Boldù nahm an, dass Rossi das Schießpulver meinte, das jetzt in Papphülsen zu Geschossen oder kleinen Bomben verarbeitet werden sollte.
«Strontium-und Bariumnitrat sind ausreichend vorhanden», fuhr Rossi fort. «Das Antimon für das Weiß erhalten wir übermorgen. Dann können wir den Satz mischen und den Füller in Betrieb nehmen.» Er wies auf eine Apparatur, die auf einem separaten Tisch neben den Mischpulten stand.
Der Füller bestand aus einer hohen, aufrecht stehenden Metallröhre, aus deren Innerem ein Seil kam, das über eine an der Decke befestigte Rolle wieder nach unten geführt wurde. Am unteren Ende des Seils befand sich ein Griff. Als
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