Die Masken von San Marco
bildete es Pfützen oder verschwand in den vielen Rissen, die den Fußboden des Raumes wie ein Spinnennetz überzogen.
Tron hatte sein Büro im zweiten Stock der Questura vor fünf Jahren bezogen, einen düsteren, durch zwei undichte Fenster erhellten Raum, dessen Einrichtung aus einem alten Militärschreibtisch, zwei Stühlen, einem Aktenschrank und einem gusseisernen Ofen bestand. Vor dem Büro lag ein langer Flur, der kein Licht von außen empfing und von drei von der Decke hängenden Petroleumlampen nur spärlich erhellt wurde, sodass Tron immer den absurden Eindruck hatte, er würde sich in einem Kellergeschoss befinden. Neben ihm residierte ispettore Capponi, der Leiter der polizeilichen Materialbeschaffung, ein älterer Herr, mit dem Tron hin und wieder ein paar Worte auf dem Flur wechselte. Auf der anderen Seite befand sich die Tür zum Polizeiarchiv, das in einer wirren Ansammlung von konfiszierten Zeitschriften und Akten älteren Jahrgangs bestand, die von einem anämischen Österreicher namens Lueger verwaltet wurde. Ob die beiden heute ebenfalls ihre monatliche Holzlieferung erhalten hatten? Tron jedenfalls hatte heute Morgen zwei kniehohe Stapel von Holzscheiten bekommen. Die Lieferanten hatten sie an der Wand aufgeschichtet, wo sie in einem Bett aus Staub und Holzsplittern auf ihre Verwendung warteten.
Tron, der der Kälte wegen immer noch seinen Gehpelz trug, trat an einen der Aktenberge, die sich an zwei Wänden stapelten, und zog aufs Geratewohl ein dünnes Konvolut hervor: das Protokoll eines Taschendiebstahls aus dem Jahr 1853, ein Fall, den noch sein Vorgänger bearbeitet hatte. Dann kniete er sich vor den Ofen, öffnete die verrußte Klappe, zerknüllte die einzelnen Bogen der Akte und häufte das Papier auf den Ofenrost. Schließlich gab er einen kräftigen Schuss Brennspiritus auf den kleinen Scheiterhaufen und hielt ein Streichholz an das Papier. Sofort schoss eine kleine Stichflamme empor, und Tron beobachtete, wie das Feuer aus dem Papierknäuel emporzüngelte und langsam die Scheite in Brand setzte. Da der Ofen nicht gut zog, war er gezwungen, noch eine Weile Luft mit einem Aktendeckel in den Ofen zu wedeln. Zehn Minuten später tat ihm der rechte Arm weh, und er beschloss schon verärgert, seinen Amtssitz heute ins Café Florian zu verlegen, als Bossi in der Tür auftauchte.
Tron erhob sich, klopfte ein wenig Asche von seinem Gehpelz und zeigte auf seinen Schreibtisch. «Der Bericht von Dr. Lionardo ist gekommen.»
«Ich kenne seinen Inhalt.» Bossi nahm den Zwicker aus Fensterglas von der Nase, mit dem er sich seit seiner Beförderung zum ispettore schmückte. «Ich habe den Bericht selbst auf Ihren Schreibtisch gelegt.»
Über seiner Uniform trug Bossi einen weißen Kittel, den er auf der Questura gerne überstreifte, um sich als Vertreter moderner Polizeitechnik und als Mann der Wissenschaft zu präsentieren. Unter den Arm hatte er einen braunen Umschlag geklemmt – vermutlich die Fotografien, die Bossi gestern von dem Toten gemacht hatte.
«Also war es offenbar kein Unfall», sagte Tron, «und Sie hatten recht, Bossi.»
«Ich hatte auch in einer anderen Beziehung recht, Commissario», erwiderte Bossi. «Das steht nicht in dem Bericht, aber Dr. Lionardo hat es mir mitgeteilt.»
Tron runzelte die Stirn. «Sie haben Dr. Lionardo gesprochen? Wo denn und wann?»
«Ich bin im Ognissanti gewesen. Um sicher zu sein, dass der Bericht vorliegt, wenn Sie in die Questura kommen.»
«Und was fehlt in dem Bericht?», erkundigte sich Tron.
«Dass diese spezielle Methode zu töten relativ ungewöhnlich ist.»
«Sie meinen, jemandem das Genick zu brechen? Das sagten Sie bereits.»
«Jetzt sagt es auch Dr. Lionardo: Es reiche nicht, einfach nur den Kopf des Opfers zu drehen. Man muss den genauen Winkel kennen und wissen, wie man den Kopf anfasst.
Der dottore vermutet, dass bei den meisten Menschen die Kraft in den Händen nicht ausreicht und der Mörder wahr scheinlich seine Arme zu Hilfe genommen hat. Er meint, diese Art zu töten erfordere eine besondere Technik.»
«Ein Indiz dafür, dass der Mörder kein Amateur war?»
«So ungefähr hat er sich ausgedrückt», sagte Bossi.
«Warum steht das nicht im Bericht?»
«Der dottore findet, dass er nur für medizinische Fakten zuständig sei. Was er sich dazu denke, sei seine persönliche Einschätzung.»
«Aber offenbar hielt er diese Einschätzung für so wichtig, dass er sie Ihnen mitgeteilt hat», sagte Tron. «Wissen Sie,
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