Die Masken von San Marco
seinen Oberkörper in die Senkrechte und schwenkte die Beine aus dem Bett.
Auf einmal wusste er, was er zu tun hatte.
Tron, der sich in seiner Freizeit als Herausgeber einer Lyrikzeitschrift mit dem Namen Emporio della Poesia betätigte, beugte sich über den Probedruck der Dezemberausgabe, schloss die Augen und genoss den unvergleichlichen Geruch, den jungfräuliches Papier und frische Druckerschwärze ausströmten. Ein Bote hatte das kleine Konvolut eben in die Questura gebracht, und Tron war froh, dass er nicht mit Bossi zur Piazza San Giobbe gefahren war – es gab Wichtigeres zu erledigen. Er hatte sich dazu entschlossen, das Pineto-Gedicht des Unbekannten auf der ersten Seite zu bringen, gefolgt von einem deutenden Essay, den er während seiner dienstlichen Aufenthalte im Café Florian verfasst hatte. Wie üblich war das letzte Drittel des Emporio der deutschsprachigen Reimkunst gewidmet, und die lag ausschließlich in den Händen österreichischer Staatsdiener.
Spaur und Stadtkommandant Toggenburg waren prominent vertreten, aber auch ein paar schöngeistige Offiziere aus dem Generalstab und dem Hauptquartier in Verona hatten die Feder gewetzt, was dem Emporio della Poesia erfahrungsgemäß einen lebhaften Absatz sicherte.
Tron, der nicht mit einer Störung gerechnet hatte, blickte verärgert auf, als es klopfte und sich der Türflügel quietschend nach innen schwang. An der Tür zeigte sich das Mondgesicht von sergente Vazzoni.
«Was gibt es, sergente ?»
Sergente Vazzoni salutierte umständlich, bevor er antwortete. «Ein Graf Königsegg ist unten. Er möchte Sie sprechen, Commissario.»
Tron riss erstaunt die Augen auf. «Der Oberhofmeister der Kaiserin? Trägt er Uniform?»
Vazzoni schüttelte den Kopf. «Er trägt Zivil. Und wie ein Graf sieht er auch nicht aus.»
«Hat er gesagt, was er will?», erkundigte sich Tron.
«Nur dass es sich um etwas Wichtiges handelt.» Vazzoni trat einen Schritt zurück. «Soll ich ihm sagen, dass Sie beschäftigt sind, Commissario?»
Tron hob entsetzt die Hand. «Auf keinen Fall, sergente .»
Er ließ die Probeabzüge des Emporio in der Schublade verschwinden, erhob sich hastig und strich seinen Gehrock glatt. Wenn der Oberhofmeister der Kaiserin ihn in der Questura aufsuchte, dann hatte er ein Problem. Vielleicht hatte sogar die Kaiserin ein Problem. Und wenn das tatsächlich der Fall war, dann … Tron konnte sein Glück kaum fassen. Er holte tief Atem und rieb sich die Hände.
«Begleiten Sie den Grafen nach oben», sagte er zu Vazzoni.
«Und behandeln Sie ihn äußerst zuvorkommend.»
Fünf Minuten später öffnete sich die Tür, und Eberhard von Königsegg betrat das Büro. Er trug einen perlgrauen Gehrock, Stiefel mit weißen Gamaschen, dazu, offenbar um eine Schlagseite nach backbord auszugleichen, einen Spazierstock. Tron tippte auf die Nachwehen einer durchzechten Nacht, denn als Königsegg über die Schwelle getreten war, verbreitete sich sofort ein intensiver Geruch nach Cognac und Eau de Cologne. Tron rückte den knarrenden Besucherstuhl zurecht und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz.
«Ich nehme an, der Bericht liegt Ihnen bereits vor», eröffnete Königsegg das Gespräch.
Selbst über den Schreibtisch hinweg war seine Ausdünstung deutlich zu riechen. Für einen Mann, auf dessen Leeseite man sich wahrscheinlich eine Alkoholvergiftung holte, sprach Königsegg erstaunlich verständlich.
Tron setzte das Lächeln eines Hoteldirektors auf, der es mit einem schwierigen, aber gut zahlenden Gast zu tun hat.
Ob er so tun sollte, als gäbe es diesen Bericht, von dem Königsegg sprach? Weil der Gast immer recht hatte? Nein, lieber nicht – das würde nur zu überflüssigen Komplikationen führen. Tron hatte das Nachtprotokoll vorhin überflogen. Außer einer kleinen Rangelei im Quadri hatte sich in der gestrigen Nacht nichts ereignet.
Er beugte sich höflich über den Tisch, die Alkoholfahne Königseggs mannhaft ignorierend. «Welcher Bericht, Herr Generalleutnant?»
Königsegg sah Tron irritiert an. «Der Bericht über die Verhaftung in Santo Stefano und die Beschlagnahmung der Kette.» Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. «Ich kann Ihnen behilflich sein, Commissario.
Und vielleicht könnten Sie dann auch mir behilflich sein.»
Das hörte sich ausgesprochen paranoid an. Litt Königsegg unter Wahnvorstellungen? Tron entschied sich zu einer behutsamen Nachfrage. Er erneuerte sein Hoteldirektorlächeln. «Wann
Weitere Kostenlose Bücher