Die Masken von San Marco
weil er sich selbst als eine Art Stockdegen betrachtete – als Mann aus blitzendem Stahl, dessen wahre Natur sich hinter der Maske eines harmlosen Biedermanns verbarg. Oberst Hölzl nahm sich vor, Boldù bei passender Gelegenheit auf seinen Stockdegen hinzuweisen – der würde dann daraus seine Schlüsse ziehen.
Mit der einbrechenden Dunkelheit hatte der Nieselregen aufgehört, der den ganzen Nachmittag auf die Stadt herabgesickert war, aber der Himmel war immer noch bedeckt.
Da das Licht der wenigen Öllämpchen an den Hausfassaden nicht weiter reichte als ein paar Schritte, lag der größte Teil des Campo Santa Margherita im Dunkeln. Selbst die Scuola dei Varotari, das mitten auf dem Campo stehende Backsteingebäude, an dem sie sich verabredet hatten, war nur undeutlich zu erkennen – der perfekte Ort für eine diskrete Zusammenkunft. Oberst Hölzl glaubte nicht, dass Boldù überwacht wurde, aber es war besser, kein Risiko einzugehen. Als er die Scuola dei Varotari umrundet hatte, stellte er fest, dass Boldù noch nicht gekommen war – allerdings war es zehn Minuten vor der verabredeten Zeit.
Das Telegramm aus Turin hatte ihn vorgestern Morgen i n Wien erreicht – zehn harmlos klingende Sätze, die dechiffriert allerdings so brisant waren, dass er sofort in die Hofburg gefahren war, um Crenneville zu konsultieren.
Und da der ihn angewiesen hatte, sich vorsichtshalber nach Venedig zu begeben, hatte er am nächsten Tag den Morgenzug nach Triest genommen und sich von der Erzherzog Sigmund, einem Raddampfer des Österreichischen Lloyd, nach Venedig bringen lassen.
Oberst Hölzl, der Venedig nicht reizvoller fand als Klagenfurt, hatte im Quadri zu Mittag gegessen und im Florian einen Kaffee getrunken, wobei er sich jedes Mal für seine Spesenabrechnung eine genaue und datierte Quittung geben ließ. Zweimal hatte er lange auf der Piazzetta gestanden und eingehend die Dachluken der Biblioteca Marciana studiert, des Gebäudes also, von dem – aus einem sehr schrägen Winkel heraus – die Schüsse fallen würden. Er würde Boldù anweisen müssen, sich in der Dachluke aufzurichten, während er seine Operettenschüsse auf den Kaiser abgab. Es war notwendig, dass man sie nicht nur hörte, sondern auch den Mann sah, der im Begriff war, den Allerhöchsten zu töten. Oberst Hölzl blieb stehen und schloss die Augen. Er hörte den Schuss, dann den panischen Aufschrei, der sich aus der Menge erhob, und er sah – in auffälligem Kontrast dazu – die Kaltblütigkeit des Kaisers und auch den anerkennenden Blick, den der Allerhöchste anschließend auf ihn warf.
Keine Frage, dass man auch ihn dann zum abendlichen Empfang in den Palazzo Reale bitten würde und dass der Kaiser nicht anstehen würde, ihn auszuzeichnen. Vielleicht durch einen festen Händedruck von Mann zu Mann? Und – wer weiß? War nicht unter diesen Umständen zu erwarten, dass er in Wien mit einer Beförderung rechnen konnte? Vielleicht sogar mit einem … Orden? Dem Leopoldskreuz am Band? Der Prinz-Eugen-Medaille mit Ei chenlaub und Schwertern? Oder gar mit dem Maria- Theresia-Orden an der Diamantspange? Oberst Hölzl spürte, wie ihm einen Moment lang der Atem stockte und er sich an den Griff seines Spazierstocks – seines Stockdegens – klammern musste. Die Aussichten waren einfach schwindelerregend.
Als er hinter sich ein Räuspern hörte, wirbelte er auf dem Absatz herum und stieß einen kleinen Schrei aus. Einen Augenblick lang hatte er die grauenhafte Vision, Opfer eines Raubüberfalls zu sein und seiner Geldbörse und seines Stockdegens beraubt zu werden. Er hätte damit nicht einmal zur Polizei gehen können – so peinlich und albern wä re das gewesen. Aber es war nur Boldù, der vor ihm stand –
größer, als er ihn in Erinnerung hatte.
«Leutnant Boldù?» Oberst Hölzl konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er hatte den Eindruck, dass der andere sich amüsierte.
«Lassen Sie das Leutnant lieber weg, wenn wir hier in Venedig miteinander reden», sagte Boldù ruhig. «Sie wollten erst übermorgen kommen.»
«Ich weiß. Aber es gibt eine kleine Komplikation», erwiderte Oberst Hölzl. «Der Mann, den Sie im Zug beseitigt haben, hätte sich aus Venedig melden sollen. Es war verabredet gewesen, dass er ein Telegramm nach Turin schickt.»
«Davon war nie die Rede.» Falls Boldù verärgert oder aufgebracht war, ließ er es sich nicht anmerken.
«Weil wir es nicht gewusst haben.»
«Und nun?»
«Herrscht in
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