Die Masken von San Marco
ein Tisch und ein Kleiderschrank. Auf dem Nachttisch lagen zwei Bücher. Als Boldù näher trat, sah er, dass es sich um eine eisenbeschlagene alte Bibel und Eugène Sues Geheimnisse von Paris handelte – zwei Werke, die er immer als ausgesprochen langweilig empfunden hatte. Der eiserne Ofen in der Ecke des Zimmers mit den akkurat übereinandergeschichteten Holzscheiten daneben war kalt. Kein Wunder, dachte Boldù, dass sich Ziani lieber im Quadri als in seiner Wohnung aufhielt.
Das einzig Auffällige in diesem Zimmer war eine bizarre Apparatur, die auf dem Fußboden hinter Zianis Bett abgestellt war – weiß der Himmel, welchen geheimnisvollen Zwecken sie diente! Sie bestand aus zwei kochtopfgroßen kupfernen Zylindern, die durch eine Reihe von Röhren miteinander verbunden waren. Boldù erinnerte das Gerät an einen primitiven Destillationsapparat, was aber nicht sein konnte, weil sich an der Vorderseite der Zylinder zwei Klappen befanden, die sich offensichtlich nur locker schlie ßen ließen.
Boldù trat an den Kleiderschrank und öffnete ihn vorsichtig. Ein Gehrock hing dort, ein Paar Hosen und ein bräunlicher Mantel. In offenen Fächern lagen Socken und einige Hemden. Nirgendwo gab es etwas Persönliches – keine Papiere, keine Briefe, keine Telegramme aus Turin.
Auch in der Küche, deren Fenster auf den kleinen Hof hinausgingen, stieß Boldù auf nichts, das ihm Rückschlüsse auf Zianis Person gestatten würde. Bis auf den Herd, einen Stuhl, einen fleckigen Tisch und einen Schrank, der kaum Geschirr enthielt, war die Küche leer. Keine Flaschen, weder volle noch ausgetrunkene, und bis auf ein wenig Käse und ein angeschimmeltes Brot keine Vorräte. Es schien fast so, als hätte Ziani damit gerechnet, dass irgendjemand die Wohnung in seiner Abwesenheit unter die Lupe nahm.
Aber das kam Boldù außerordentlich unwahrscheinlich vor.
Er musste irgendetwas übersehen haben. Aber was?
Boldù durchquerte den Flur und lief in Zianis Zimmer zurück. Dann ging er vor den beiden Kupferzylindern mit den Röhren in die Knie und tat das, was er vorhin versäumt hatte. Er öffnete die Klappe des linken Zylinders, steckte die Hand hinein und zog etwas heraus, das auf den ersten Blick einer riesigen Garnspule ähnelte, in Wahrheit aber, wie Boldù sofort erkannte, eine aufgewickelte Zündschnur war. Der zweite Zylinder enthielt ein kleines Bündel aus rotem Samtstoff, in den ein schwerer Gegenstand eingeschlagen war. Boldù nahm das Bündel heraus, legte es auf den Tisch, schlug vorsichtig das Tuch auseinander – und stieß vor Überraschung einen Pfiff aus.
Die Kette, die vor ihm auf der Tischplatte lag und im Schein der Blendlaterne schimmerte, war aus purem Gold.
Sie bestand aus zahlreichen, mit kleinen Scharnieren verknüpften Medaillons, auf denen, so wie auf Münzen, Profile abgebildet waren. Boldù konnte den künstlerischen Wert des Geschmeides nicht beurteilen, aber allein das Material musste ein Vermögen wert sein. Wie war Ziani an diese Kette gekommen? Und warum versteckte er sie ausgerechnet hier in dieser schäbigen Wohnung? Ob Boldù sie mitnehmen sollte? Oder war es klüger, nichts anzurühren?
Unschlüssig starrte Boldù auf die Kette, als er plötzlich ein Geräusch an der Wohnungstür hörte – unverkennbar ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird. Er löschte die Blendlaterne und trat lautlos hinter den geöffneten Türflü gel. Schritte kamen näher, und dann betrat Ziani das Schlafzimmer. Er stellte die Petroleumlampe, die er im Flur entzündet hatte, auf den Tisch, und als er die goldene Kette auf dem Tisch sah, drehte er sich erschrocken um – und erstarrte.
Boldù bewegte sich ohne Hast einen Schritt auf Ziani zu und ließ sein rechtes Knie zwischen dessen Beine schnellen.
Zianis Oberkörper klappte mit einem erstickten Schmerzensschrei nach vorne – genau in die richtige Position für den zweiten Stoß mit dem Knie. Diesmal brach Zianis Nase, und er ging zu Boden. Er versuchte, unter den Tisch zu kriechen, aber ein Fußtritt katapultierte seinen Kopf gegen das Tischbein. Schnell warf sich Boldù auf Ziani, packte seinen Kopf mit beiden Händen und drehte ihn mit aller Kraft nach links. Zianis Genick brach mit einem scharfen Knacken. Dann schleifte Boldù ihn auf die andere Seite des Zimmers und verstaute ihn auf dem Boden des Kleiderschranks. Das war nur möglich, wenn Ziani eine sitzende Position einnahm und die Beine stark anzog – keine bequeme Haltung, aber so wie die Dinge
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