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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Palazzi, die die Ostseite der Calle Lunga San Barnaba säumten und mit ihrer Rückseite an den Rio Malpaga stießen. Mit dem abblätternden Putz und den mit Brettern vernagelten Fenstern war er als Palazzo kaum noch zu erkennen. Über Generationen hinweg aufgeteilt, ausgeweidet und misshandelt, erinnerten allenfalls die Dreipassfenster und die Reste eines steinernen Balkons am piano nobile daran, dass das Gebäude einmal bessere Tage gesehen hatte. COLORI E  PENNELLI, Farben und Pinsel, stand auf einem verblichenen Holzschild, das über einem kleinen Laden neben dem Durchgang zum Hof hing, aber es machte den Eindruck, als hätte den Laden schon lange kein Kunde mehr betreten.
    Eberhard von Königsegg, den es noch nie in diesen Teil von Dorsoduro verschlagen hatte, tastete nach dem Dienstrevolver in seiner Manteltasche. Dann durchquerte er den Durchgang, betrat den Hof und stellte fest, dass die Beschreibung, die er von einem Nachbarn des professore erhalten hatte, zutraf. Die wuchtige Holztür auf der anderen Seite des Hofes konnte nur zum andron führen, dem großen Lagerraum des Palasts. Dort war angeblich Signor Andreotti anzutreffen – der Mann, der die Mieten in dem Haus kassierte, das der professore bewohnt hatte, denn seit vorgestern Abend hatte ihn kein Nachbar mehr gesehen. Was das bedeutete, war klar. Der professore musste irgendwo im Labyrinth der Lagunenstadt untergetaucht sein.
    Nach dem niederschmetternden Gespräch mit dem  Commissario in der Questura war Königsegg zu dem  Schluss gekommen, dass die beiden falschen Polizisten mit dem professore unter einer Decke gesteckt hatten. Königsegg hatte den gestrigen Nachmittag und den größten Teil der Nacht damit verbracht, Cognac trinkend einen Schlachtplan zu entwerfen. Er würde den professore suchen – und er würde ihn finden. Natürlich war es die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Aber hatte ihm der Herr nicht schon einmal einen Engel gesandt? Und vollbrachte der Erlöser nicht täglich Wunder? Grenzte nicht auch die coagulatio der Halskette, deren Zeuge er geworden war, an ein Wunder?
    Heute war Königsegg erst gegen Mittag erwacht – jedoch mit einem erstaunlich klaren Kopf und mit der ebenso erstaunlichen Gewissheit, dass er den professore aufspüren würde. Und wer weiß, dachte Königsegg, während er auf die Tür des andron zuschritt, vielleicht gelang es ihm sogar, ihm das Geheimnis der coagulatio zu entreißen.
    Die mächtige Tür knarrte und schloss sich mit einem  dumpfen Ton, der den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ. Königsegg sah, dass die rechte Hälfte des Lagerraums durch eine unverputzte Ziegelmauer abgetrennt war, in die man eine rohe Holztür eingefügt hatte. Klopfgeräusche und ein leises, zwitscherndes Piepen drangen nach außen, fast so als würde Signor Andreotti Hunderte von Singvögeln halten.
    Königsegg nahm seinen Zylinderhut ab und schlug mit  dem Knauf seines Spazierstocks gegen die Tür. «Signor Andreotti?»
    Das Klopfen hörte abrupt auf, und zugleich schwoll das vielstimmige Piepen an, so als wären die Vögel – unsere kleinen Frühlingsboten, wie die Gräfin Königsegg sie nannte – durch das Klopfen in Aufregung geraten.
    Schließlich öffnete sich die Tür, und ein hagerer Mann unbestimmten Alters streckte Königsegg sein Gesicht ent gegen. Er trug eine fleckige Schürze, in der Hand hielt er ein Hackmesser. Er sah Königsegg unwirsch an.
    «Sind Sie Signor Andreotti? Der Signore, der die Mieten im Palazzo Soranzo kassiert?»
    Andreotti, um den es sich offenbar handelte, nickte  schweigend.
    «Ich brauche eine Auskunft über einen Ihrer Mieter», sagte Königsegg. «Es geht um die Wohnung im ersten Stock. Die Nachbarn konnten mir nichts über ihn sagen.
    Ich muss diesen Mann unbedingt finden.»
    Das schien Andreottis Aufmerksamkeit zu erregen. «Er schuldet Ihnen Geld?»
    Ja, dachte Königsegg. So konnte man es bezeichnen. Er nickte. «Ziemlich viel Geld.»
    «Der Bursche ist verschwunden, ohne seine Miete zu  bezahlen», sagte Andreotti verdrossen. Dann trat er überraschend zurück. «Kommen Sie rein.»
    Königsegg machte einen Schritt in den Raum, und was  er dort erblickte, verschlug ihm den Atem. Anstelle zierlicher Volieren mit Frühlingsboten waren an der rückwärtigen Wand des Raumes Dutzende von Käfigen übereinandergestapelt, deren Vorderseiten aus Maschendraht bestanden. Sie waren voller Ratten – es musste sich um Hunderte und Aberhunderte von Ratten handeln. Jetzt

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