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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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«Topolino!»
    Es öffnete sich eine kleine Klappe in der Holzwand, die Königsegg übersehen hatte, und plötzlich stand der schwarze Hund, Topolino, in der Kampfbahn – Auge in Auge mit den Ratten, die sich auf die andere Seite der Arena geflüchtet hatten und in hektisches, schrilles Pfeifen ausgebrochen waren.
    Es war ein Hund, wie ihn Königsegg noch nie gesehen  hatte – eine pelzige Kampfmaschine aus Fleisch und Blut mit einem dicken, überdimensionierten Kopf und kleinen schlitzartigen Augen. Sein gewaltiger Brustkorb und seine muskulösen Vorderbeine vibrierten förmlich vor Energie.
    Obwohl der Hund nicht groß war, er Königsegg höchstens bis zum Knie ging, hatte er eine brutale und gefährliche Ausstrahlung.
    Königsegg hatte erwartet, dass sich der Hund sofort auf die Ratten stürzen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen lief er langsam zur Mitte der kleinen Arena. Dort blieb er stehen, sah sich um und bellte kurz und heiser. Dann setzte er sich hin und begann, sich in aller Ruhe die Hinterläufe zu lecken.
    «Was für ein Hund ist das?», fragte Königsegg.
    «Ein Manchester-Terrier», antwortete Andreotti, «er  wiegt dreißig Pfand, und das ist sein zwölfter Kampf. Er liegt bei vier Sekunden.» Und kurz darauf setzte er hinzu:
    «Die Zeit läuft erst, wenn er anfängt.»
    «Was macht er so lange?»
    «Er putzt sich, um in Stimmung zu kommen», erläuterte Andreotti. «Aber es geht sofort los.»
    Königsegg sah, wie sich der Hund langsam nach hinten duckte, er schien seinen muskulösen Körper wie eine Feder zu spannen. Dann machte er einen eleganten Sprung und landete vor einer dunkelbraunen Ratte. Blitzschnell stieß er den Kopf nach vorne, biss zu, schüttelte die Ratte und ließ sie fallen. Das Sägemehl auf dem Boden spritzte auf wie Wasser, die Glocke bimmelte, und die Zuschauer klatschten und skandierten brüllend den Namen des Hundes: To-po-li-no! To-po-li-no!, während das Tier mit fast geschäftsmäßiger Routine seine Arbeit verrichtete. Zubeißen, schütteln, fallen lassen, dann wieder zubeißen, schütteln, fallen lassen.
    Dabei ging der Hund, fand Königsegg, seiner Arbeit mit tänzerischer Eleganz nach und tat dies lautlos – ganz im Gegensatz zu den johlenden Zuschauern und den panisch piepsenden Ratten.
    Nach anderthalb Minuten, schätzte Königsegg, war die erste Runde beendet. Topolino hatte wieder seine Ausgangsposition eingenommen und leckte sich – harmlos wie ein Mäuschen und als wäre nichts geschehen – wieder die Hinterläufe. Dann sah Königsegg, wie ein Mann, der zwei Holzböcke und ein Brett trug, die Arena betrat. Er baute eine Art Tisch auf und fing an, die toten Ratten aufzusammeln und sie auf dem Brett nebeneinanderzulegen – wie die Strecke bei einer Jagd, nur dass es sich hier nicht um Hasen oder Fasane handelte. Schließlich trat der Bärtige vor das Brett und versetzte jeder der Ratten einen kleinen Schlag mit einem Stöckchen – so verlangten es die Regeln.

    Keine Ratte zuckte, keine versuchte, mit letzter Kraft vom Brett zu kriechen. Sie waren alle tot.
    Jetzt ertönte die Klingel, und alle Augen richteten sich auf den Bärtigen. Er hob die Hand und wartete, bis er die ganze Aufmerksamkeit des Publikums hatte. «Eine Minute und vierzig Sekunden», verkündete er.
    Wieder brachen die Zuschauer in hektisches Gebrüll aus und skandierten den Namen des Hundes: To-po-li-no! To-po-li-no! Es kostete Königsegg einige Anstrengung, nicht in das Gebrüll einzustimmen.
    «Er hat im Schnitt fünf Sekunden pro Ratte gebraucht», sagte Andreotti.
    «Ist das gut?»
    Königsegg wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er tat dies, wie ein echter Kerl, mit dem Ärmel seines Gehpelzes und nicht mit einem affigen, nach Eau de Cologne riechenden Taschentuch. Er war immer noch außer Atem – so als hätte er selbst jede einzelne Ratte gejagt und zu Tode geschüttelt. Sein Puls raste, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber es war ein höchst angenehmer Erregungszustand.
    «Eher mittelmäßig», meinte Andreotti. Er sah Königsegg aufmerksam an. «Hat es Ihnen gefallen?»
    Darüber musste Königsegg, dessen Atem sich langsam
    normalisierte, nachdenken. Hatte es ihm gefallen? Nein –  gefallen war nicht das richtige Wort. Gefallen war ein Wort für Blumensträuße, Romane und Abendkleider, ein weibliches Wort. Aber das hier – der Kampf, den er eben gesehen hatte, war ausgesprochen männlich. Es hatte ihn … gepackt.
    Ja, das war das richtige Wort.
    Königsegg

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