Die Masken von San Marco
heraus, dass es am Campiello San Anselmo gar keine farmacia und in der Salizzada San Cristoforo keinen Marienschrein gab. In diesem Fall jedoch war die Adresse, die Oberst Hölzl ihm gestern Nacht gegeben hatte – Campo San Maurizio, über der Macelleria – erstaunlicherweise richtig gewesen.
Boldù hatte sich dessen vergewissert, indem er zwei äußerst preiswerte, aber merkwürdig riechende Würste in der Macelleria gekauft und sich beiläufig nach einem Signor Ziani erkundigt hatte. Nein, den Namen kenne man nicht, aber vor zwei Monaten sei ein Signore über ihnen eingezogen, der ein wenig hinke – ob er wohl den meine?
Boldù hatte sich im gegenüberliegenden Hauseingang postiert. Dass ihn Ziani bei einem Blick aus dem Fenster entdecken würde, war unwahrscheinlich. Erstens war es dunkel, und zweitens verfügte Boldù über die wichtige Tugend eines Jägers, stundenlang geduldig, notfalls regungslos zu warten und dabei mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Natürlich hätte es ein wenig wärmer sein können. Aber es regnete nicht, und der scharfe Ostwind, der den ganzen Tag lang über die Stadt geweht hatte, schien eingeschlafen zu sein.
Um kurz vor neun erlosch das Licht hinter den Fenstern, und ein paar Minuten später verließ Ziani das Gebäude.
Boldù trat vorsichtshalber einen Schritt in den Hauseingang zurück, in dem er gewartet hatte. Als Ziani in der Calle Zaguri verschwunden war, überquerte Boldù den Campo San Maurizio, betrat das Haus und stieg ohne Hast die Stufen empor. Er ging davon aus, dass er mindestens zwei Stunden Zeit hatte, bis Ziani zurückkam. Wie jeden Abend ging er zum Essen ins Quadri. Doch länger als eine halbe Stunde würde Boldù nicht brauchen.
Sie hatten auch diesen Nachmittag im ehemaligen Bordrestaurant der Patna Feuerwerksraketen hergestellt. Boldù schätzte, dass es inzwischen mindestens dreihundert Stück waren. Gleichzeitig über der Piazza San Marco abgefeuert, würden die grün-weiß-roten Raketen ein grandioses Spektakel abgeben, und fast bedauerte Boldù, dass er gezwungen war, die Feuerwerker ans Messer zu liefern. Aber Oberst Hölzl hatte sich klar ausgedrückt: Spätestens am Montag musste die venezianische Polizei die Leute gefasst haben.
Nicht dass er inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Mitverschwörern entwickelt hätte. Die Arbeit wurde weitgehend schweigend verrichtet, und auch untereinander beschränkten Ziani und seine beiden Mitstreiter die Unterhaltung auf das Nötigste. Nur einmal hatte einer der beiden eine rätselhafte Bemerkung über eine falsche Polizeiuniform gemacht, worauf alle drei, auch der humorlose Ziani, in lautes Gelächter ausgebrochen waren. Überhaupt Ziani – Boldù wurde nicht recht schlau aus ihm.
Ziani musste das Telegramm aus Turin eigentlich erhalten haben, aber Boldù hatte heute Nachmittag vergeblich nach Anzeichen von Misstrauen in Zianis Verhalten geforscht.
Wahrscheinlich, dachte er, hatte Ziani beschlossen, noch ein paar Tage abzuwarten. Doch in ein paar Tagen hatte die venezianische Polizei die Feuerwerker vielleicht bereits am Wickel.
Was wollte er also in Zianis Wohnung? Was hoffte er dort zu finden? Weshalb nahm er das Risiko eines Einbruchs auf sich? Die Idee war ihm gekommen, als Ziani in einem ihrer Gespräche erwähnt hatte, dass er jeden Abend zum Essen ins Quadri ging, seine Wohnung also für ein paar Stunden leer war. Den Entschluss, sich dort ein wenig umzusehen, hatte er noch auf der Patna gefasst –, ohne dass es einen bestimmten Grund dafür gab. Es kam selten vor, dass er eine Entscheidung traf, die er nicht erklären konnte.
Aber manchmal war es gut – und auch das sagte ihm sein Verstand –, wenn man seinem Instinkt folgte.
Zianis Türschloss zu öffnen war ungefähr so kompliziert, wie eine Cognacflasche zu entkorken. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, und er hätte es auch mit bloßen Händen geschafft. Boldù zog die Tür vorsichtig auf und lauschte in die Wohnung hinein. Als sich nichts rührte, trat er ein, schloss leise die Tür hinter sich und entzündete seine Blendlaterne.
Er stand in einem schmalen, vielleicht fünf Schritte langen Flur, von dem links und rechts eine Tür abging. Bis auf einen Kleiderhaken und einen Schirmständer war der Flur leer. Es war kalt, und es roch nach verdorbenem Fisch und abgestandenem Zigarettenrauch. Im Zimmer auf der rechten Seite des Flures, das zum Campo San Maurizio hinausging, standen ein Bett mit Nachttisch,
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