Die Maurin
wieder bei ihnen.
»Kommt her«, sagte Tamu leise und klopfte neben sich auf ihr Bett.
Mit hängenden Schultern ging Zahra zu ihr und sank neben sie. Tamu nahm ihre Hand und bettete sie in ihren Schoß. »Gebt Eurer Schwester Zeit«, sagte sie so leise, dass selbst Zahra sie kaum verstehen konnte. »Sie ist noch jung und in der Tat so unerfahren, wie Ihr eben gesagt habt.«
»Heißt das, dass wenigstens du Hayat und mich nicht verurteilst?« Flehend sah Zahra zu ihr auf.
»Ach, Kind, ich …« Tamu schüttelte den Kopf. »Ich bin zu alt für diese Dinge. Zu meiner Zeit wäre dergleichen undenkbar gewesen. Niemand, den ich kenne, hätte gewagt, was Hayat und Ihr schon gewagt habt. Aber tatsächlich fragt Ihr Euch doch vor allem, wie Eure Mutter geurteilt hätte, und ich bin mir sicher, dass sie Euch auch diesmal verstanden hätte.«
Zahra hatte auf einmal das Gefühl, dass nicht nur Tamu, sondern auch ihre Mutter sie anblickte. Sie sank in Tamus Schoß und weinte zum ersten Mal, seit Leonor gestorben war, lang und anhaltend über ihren Verlust.
»So ist es gut, mein Kind, weine, weine alles aus dir heraus«, murmelte Tamu und strich ihr sanft über das Haar.
Als Zahra sich beruhigt hatte, zog Tamu ihr die Kleider aus, wie sie es getan hatte, als sie noch ein Kind war, führte sie zu ihrer Schlafstatt und deckte sie fürsorglich zu. Binnen kurzem fielen Zahra die Augen zu. Zunächst schlief sie so ruhig und friedlich wie lange nicht mehr, aber dann träumte sie von ihrer Mutter und Raschid. Sie sah die beiden, wie sie in ihrem Haus in Granada den Orangenbaum pflanzten und lachend darüber verhandelten, wie lange es wohl dauern würde, bis der Baum so viele Früchte trug, dass Raschid sie nicht mehr allein würde essen können. Auch Bilder von ihrer Mutter am Todestag zogen vor ihr auf – und schließlich wieder Raschid. Überlebensgroß erschien sein Gesicht vor ihrem inneren Auge. Die Wangen waren hohl und eingefallen, und wenn in seinen Augen nicht dieser unbändige Lebenswille gelodert hätte, hätte sie ihn für tot gehalten. Es schien ihr, dass er ihr etwas sagen wollte, aber Zahra verstand ihn nicht und wachte schweißgebadet auf. Das erste Morgenlicht blinzelte durch die schweren Vorhänge vor ihrem Fenster. Zahra setzte sich auf und war verwundert, statt Raschid Zainab und Tamu neben sich im Zimmer zu sehen, so nah hatte sie sich ihm gefühlt. Zu gern hätte Zahra mit Tamu über den Traum geredet, aber sie schlief noch ebenso fest wie Zainab. Das Zimmer erschien Zahra eng und stickig. Der Traum lastete wie ein Alpdruck auf ihr. Sie musste hinaus, frische Luft einatmen, den Himmel und Vögel über sich sehen. Obwohl sie wusste, dass sie das Zimmer nicht verlassen durfte, zog sie sich an und huschte aus dem Haus. Gierig sog sie die kühle, klare Morgenluft ein und lief zur Pferdekoppel.
Als ihr Rappe sie sah, schnaubte er und trottete ihr entgegen. Zahra bezweifelte, dass der Wallach sie schon kannte, freute sich aber über die Begrüßung, klopfte ihm auf den edel schimmernden Hals und drückte die Stirn gegen sein warmes Fell. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sie blickte sich um und sah, wie jemand in dem mannshohen Gebüsch neben der Koppel verschwand. Ohne nachzudenken, schlich sie der Gestalt nach. Nach wenigen Schritten in den Wald hinein erspähte sie einen kleinen, alten Mann, der mit staksigen Schritten den Weg in Richtung der nahen Berge einschlug. Er war in den groben Aufzug eines Derwischs gehüllt, sein Haar grau und schütter, sein fadenscheiniger Burnus flatterte um den dürren Leib. Eine heftige, aberwitzige Hoffnung schoss in Zahra hoch. Sie eilte dem Mann nach. Schon war sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, da wandte sich der Alte um. Seine eigentümlich hellen, eisgrauen Augen blickten sie starr und undurchdringlich an. »Hast lange gebraucht, bis du mich bemerkt hast. Wollte schon gehen.«
»Ihr seid es wirklich!«, hauchte Zahra. So viele Wochen und Monate hatten ihre Mutter und sie nach dem Santon gesucht, der dem Emir in Granada den Untergang des Reichs vorausgesagt hatte, und jetzt stand er vor ihr.
Der Santon lachte verächtlich auf. »Bist ihm so nah und siehst ihn trotzdem nicht!« Seine Stimme klang rauh und wie eingerostet, als hätte er sie schon lange nicht mehr benutzt.
»Von wem redet Ihr?«, fragte Zahra.
»Als ob du das nicht genau wüsstest!«
»Meint Ihr meinen Bruder Raschid? Wisst Ihr, wo er ist? Bei Gott, so redet
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