Die Maurin
doch!«
Der Santon ließ ein keckerndes Lachen ertönen und hastete weiter. Zahra stolperte ihm nach.
»Ich flehe Euch an. Wenn Ihr wisst, wo ich meinen Bruder finden kann, so sagt es!«
»Ihr seid blind. Blind, blind, blind!« Er machte eine unwirsche Handbewegung und eilte weiter.
»Dann öffnet mir die Augen«, rief Zahra verzweifelt. »Ich spüre, dass Raschid noch lebt und mich braucht. Helft mir, ihn zu finden, bei Gott, so helft mir doch!«
Der Santon blieb so abrupt stehen, dass Zahra ihn fast umrannte. »Du bist wie alle: Ihr wollt nur wissen, was euch angenehm ist, aber nicht, was euch in Wahrheit erwartet. Weil ihr Feiglinge seid. Erbärmliche, nichtswürdige Feiglinge!«, spuckte er ihr seine Verachtung entgegen.
»Ich bin sehr wohl bereit, die Wahrheit zu erfahren!«
»Ach ja?« Wieder ließ er sein keckerndes Lachen vernehmen. »Dann wisse, dass dich noch großes Leid erwartet, mein Kind! Unser ganzes Volk wird schwer geprüft werden, aber deine Familie wird es besonders hart treffen, und du wirst am meisten von allen zu leiden haben!« Höhnischer Triumph trat in seine Augen. »Na, jetzt sagst du nichts weiter. Verfluchst mich ebenso wie alle anderen und bezichtigst mich der Lügen, was?«
Zahra wurde es mulmig. Trotzdem hielt sie seinem Blick stand. »Sagt mir, was Ihr über Raschid wisst!«
»Wozu, wenn du es schon weißt, du tumber Mensch? Du träumst doch von ihm!«
»Aber in meinen Träumen sehe ich nur sein Gesicht. Ich weiß nicht, wo er ist. Er will mir etwas sagen, aber ich kann ihn nicht verstehen!«
»Weil du weder genau hinsehen noch hinhören willst«, konterte er übellaunig. »Angst habt ihr, ihr alle. Denn sonst würdet ihr sehen, sonst würdet ihr alles sehen! Und jetzt, weg, weg, lass mich! Mehr sage ich nicht!«
Er wirbelte mit den Armen durch die Luft, als müsse er einen Schwarm Heuschrecken verjagen, und trippelte vor sich hin grummelnd weiter. Zahra blieb zurück.
Er sagt, dass ich es weiß, wiederholte sie in Gedanken seine Worte, und dass ich nur zu große Furcht habe, um hinzusehen … Sie schloss die Augen und versuchte Raschids Bild wieder vor ihr inneres Auge zu holen. Nach einem Moment gelang es ihr tatsächlich, doch wiederum konnte sie nur sein leidendes Gesicht sehen. Sie stampfte mit dem Fuß auf, aber es half nichts, sie würde wohl bis zur kommenden Nacht warten und darauf hoffen müssen, dass sie wieder von Raschid träumte – und dann endlich mehr erfuhr. Nachdenklich schlich sie zurück ins Haus und ging in ihr Zimmer. Zainab und Tamu schliefen noch immer. Zahra setzte sich auf ihre Schlafstatt und flehte den Allmächtigen um Beistand an.
Obwohl ein langer, anstrengender Ritt hinter ihnen lag, konnte Zahra in der folgenden Nacht nicht einschlafen. Ihr wurde bewusst, dass der Santon recht hatte. Ja, sie hatte in der Tat Angst, die Wahrheit zu erfahren. Sie fürchtete, das ganze Ausmaß von Raschids Elend nicht ertragen zu können – und noch mehr, nichts für ihn tun zu können.
Trotzdem muss ich ihn finden, beschwor sie sich. Ich brauche Gewissheit, und vielleicht kann ich ja doch etwas für ihn tun. Wieder schloss sie die Augen, doch erst Stunden später fiel sie in Schlaf.
Zunächst träumte sie wieder von ihrer Mutter. Es waren die gleichen Szenen und Bilder wie in der vergangenen Nacht, aber dann erschien ihr auch Raschid. Zuerst sah sie nur sein Gesicht, und als sie dies mit Ungeduld erfüllte, hörte sie in ihrem Traum das keckernde Lachen des Santons: »Siehst du, du hast nicht den Mut hinzusehen. Es fehlt dir an Mut, an Mut, an Mut!«
Zahra ärgerte sich, zumal sie spürte, dass er recht hatte, da wurde Raschids Gesicht kleiner, und sie konnte nach und nach auch seinen Körper sehen. Er trug zerschlissene Kleider, war bis auf die Knochen abgemagert, und um seinen rechten Fußknöchel war eine Eisenfessel.
»Sieh hin, sieh noch genauer hin«, hörte Zahra den Santon zischen. Zuerst schien es ihr, als würde Raschids Bild verschwimmen, aber dann sah sie ihn an einer Pferdetränke auf einem großen Platz stehen. Ein bulliger, vierschrötiger Kastilier peitschte mit einer Gerte auf ihn ein und trat ihm so brutal in die Seite, dass Raschid das Gleichgewicht verlor und in die Tränke fiel. Der bullige Kerl lachte mit eigenartig vielen Stimmen – und Zahra erwachte. Verzweifelt hielt sie die Augen geschlossen und hoffte, dass sie noch mehr sehen würde, aber es zeigten sich keine weiteren Bilder mehr.
Zahra setzte sich auf. Diese
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