Die Maurin
weiter hinten, unter einem Busch, ein reglos daliegendes Kind. »Raschid, sieh nur!«
Raschid erreichte den Jungen vor ihr und drehte ihn auf den Rücken. Zahra schlug die Hand vor den Mund. Trotzdem quoll ein jämmerlicher Klagelaut aus ihr heraus. Es war Samuel, Deborahs siebenjähriger Bruder. Seine Bauchwunde war so tief und weit aufgerissen, dass er binnen kürzester Zeit verblutet sein musste.
»Beim Allmächtigen«, stöhnte Raschid. »Letzte Woche habe ich Samuel versprochen, in diesem Winter mit ihm auf die Falkenjagd zu gehen. Du hättest sehen sollen, wie er sich darauf gefreut hat. Und jetzt?« Raschid richtete sich auf und schlug mit voller Wucht gegen einen Baumstamm. »Und das alles bloß, weil der Emir den unseligen Tribut nicht weiter zahlen wollte!«
Angstvoll griff Zahra nach ihrem Schutzring, um für Deborah zu bitten. Erst als sie die Leere an ihrem Finger spürte, fiel ihr ein, dass sie ihn noch immer nicht wiedergefunden hatte. Ihre Furcht um Deborah und die anderen wuchs ins Unermessliche. Mit einem Mal meinte sie aus dem nahen Wald Geräusche zu hören und machte ihrem Bruder ein Zeichen. Raschid zog wieder seinen Kurzsäbel und bedeutete ihr, sich flach auf den Boden zu legen. »Es muss so aussehen, als wärst du tot«, zischte er ihr zu.
Zahra nickte und rollte sich unweit von Samuel unter einen Busch. Kurz darauf hörte sie Raschid schreien – und eine Frau aufschluchzen. Sie spähte aus ihrem Versteck und sah, wie Raschid Deborah an sich presste. Sie trug noch ihr Nachthemd. Es war erdverschmiert und zerrissen, ihr Haar voller Laub und abgebrochener Ästchen – aber sie schien unversehrt. Zahra rannte zu ihr und umarmte sie und ihren Bruder.
»Wo sind die anderen?«, fragte sie Deborah. »Sie … sie haben sie doch nicht alle mitgenommen?«
Deborah schüttelte den Kopf. »Nein, einige von uns haben sich in eine Höhle flüchten können. Meine Eltern sind dort und meine beiden Schwestern. Ich bin hergekommen, weil ich meine Brüder suche. Mutter und ich hatten die Mädchen an der Hand, Vater stützte eine verletzte Nachbarin, und Raphael sollte auf Samuel aufpassen. Es war ein fürchterliches Durcheinander, immer wieder wurden wir auseinandergerissen, und als wir an der Höhle ankamen, haben wir darauf gewartet, dass Raphael mit Samuel kommt …«
Raschid und Zahra tauschten einen Blick.
»Ihr habt sie gefunden, oder?«, fragte Deborah tonlos. »So redet doch schon und sagt mir …«
Raschid legte ihr die Hand auf den Arm. »Wir haben Samuel gefunden. Er … Wir konnten nichts mehr für ihn tun.«
Deborah schluckte. »Wo … wo ist er?«
Raschid wies mit dem Kinn zu dem Busch. Deborah wollte zu ihrem toten Bruder gehen, doch er hielt sie zurück. »Ihn so zu sehen täte dir nur weh.«
In Deborahs Augen traten Tränen, aber sie ging nicht weiter. Als sie ihre Fassung wiedergefunden hatte, fragte sie mit erstickter Stimme: »Und Raphael?«
Raschid zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wo er ist. Vielleicht haben sie ihn verschleppt …«
Deborah wankte. Raschid zog sie erneut zu sich heran und küsste sie auf das Haar.
»Wir werden Raphael suchen und ihn auslösen«, versprach er ihr. »Ein so großer und kräftiger junger Mann wie er bringt auf dem Sklavenmarkt ein paar ordentliche Goldstücke. Es liegt in ihrem eigenen Interesse, ihm kein Haar zu krümmen!«
»Sind unter denen, die fliehen konnten, auch Verletzte?«, fragte Zahra.
Deborah nickte. »Vater bemüht sich zu helfen, wo er nur kann, aber es sind so viele schwer verletzt, und sein Verbandsmaterial, seine Medizin und seine Heilkräuter sind mit dem Mobiliar des Hauses in Flammen aufgegangen.«
»Wo finde ich deinen Vater?«
Deborah beschrieb ihr den Weg zu der Höhle. Zahra rannte los.
Die Höhle, in die sich die Menschen des Dorfes geflüchtet hatten, war kaum zweihundert Schritte vom Ort entfernt. Der Eingang war so dicht von den umstehenden Büschen und Bäumen überwachsen, dass Zahra ihn trotz Deborahs Beschreibung nur mit Mühe finden konnte. Endlich drückte sie die Äste beiseite und zwängte sich hindurch. Die Flammen zweier Öllampen warfen einen unruhigen Lichtschein über die Flüchtlinge. Zahra wusste, dass das Dorf über dreihundert Einwohner hatte. Das hier konnte kaum ein Drittel von ihnen sein. Von allen Seiten drang Stöhnen und Wimmern zu ihr; nur die wenigsten waren bisher versorgt worden. Deborahs Vater kniete über einem Mann mit einer tiefen Stichverletzung im Bauchraum
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