Die Maya-Midgard-Mission
Lebens...", sagte Caldera mit lauter Stimme und ging ein paar Schritte auf die Sommersprossige am Fuß einer Wendeltreppe zu.
" Wie bitte?", fragte Rotschopf. Dann schob sie ein Bein nach vorne, so dass sich ihr Ledermini teilte und den Blick auf einen festen, weißen Schenkel öffnete.
" Die Würze des Lebens ist: Lernen zu begreifen", sagte Carlos Ybarra Caldera und deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf die mannsgroße Glyphe, die eigentlich eine Keramik war.
Rotschopf löste sich aus der Gruppe und kletterte zwei Stufen hoch. Vor den drei let zten Stufen der geschwungenen Bronzetreppe blieb sie stehen und sagte leise, aber laut genug, dass alle anderen Anwesenden ihre Worte hören konnten: "Wenn ich Sie richtig verstehe, Señor Caldera, dann wollen Sie, dass eine von uns fürchterlich prüden Engländerinnen Ihren Phallus begreift."
Schweigen. Niemand mochte die P enis-Glyphe mehr betrachten. Doch die Verblüffung der Vernissagegäste war schnell verflogen. Schockiertes Getuschel ertönte und schwoll zum Stimmensturm geheuchelter Entrüstung, als der Meister sagte: "Stimmt!"
Schon hatte er die Dame am Haken. Carlos Caldera ging ein paar Schritte, schwang sich über die Brüstung, schob die Umstehenden allein durch seine physische Pr äsenz beiseite, legte ihre kühle Rechte in seine linke Hand und führte die Sommersprossige zum Stein des Anstoßes. Langsam ließ er die ineinander verschränkten Hände über die Wölbungen der Keramik gleiten.
" Spüren Sie seine Kraft?", fragte er.
Rotschopf lächelte, und das goldene Geschmeide an ihrem Hals gli tzerte verheißungsvoll. Sie wusste genau, dass ihre Langeweile sie dazu verführte, sich wie die schlechte Parodie einer Pressezicke aus der Sparte 'Klatsch & Tratsch' zu benehmen und nicht wie eine seriöse Feuilletonjournalistin, die sie sein sollte. Sie hatte auch die Warnungen vernommen, dass man sich vor Carlos Caldera hüten solle, ob seiner vielen Gesichter. Sie ahnte, dass sie sich gewaltig die Finger verbrennen könnte, falls sie das Spielchen mit dem Feuer dieses kolumbianischen Vulkans weitertrieb. "Ihr Machismo steht der Monströsität Ihrer Skulpturen in nichts nach", sagte sie todesmutig und zur schnellen Flucht bereit.
Caldera beantwortete das Kompliment mit einem Handkuss. So ei nfach war es nicht immer gewesen. Die Versuche des jungen Carlos, die Menschen auf der Basis seiner besonderen Fähigkeit für seine Zwecke zu manipulieren, waren allesamt gescheitert. Und damals wurde ihm zum ersten Mal seine große Schwäche bewusst: die Selbsterkenntnis. Um andere einzuspannen, musste er sich nämlich zuerst einmal über seine eigene Person im Klaren sein. Aber er selbst war sich ein Rätsel. Sein eigenes Verhalten konnte er nie vorausberechnen. Seine Launen wechselte er noch öfter als seine fünf Schwestern daheim in San Jaime ihre Kleider. In einer einzigen Minute konnte sein Stimmungspendel von Zorn auf Sanftmut und von Schurke auf Samariter ausschlagen. Er war Jekyll und Hyde, und meistens war er sie gleichzeitig. Manchmal wollte er ein Killer sein, ein harter Hund, ein Knochenbrecher. Aber er blieb doch immer nur ein Papi-Söhnchen, der Laber-Intellektuelle, dieser degenerierte Hirnakrobat, dieses verabscheuungswürdige Weichei aus bürgerlichem Hause. Er tat alles – fast alles –, um gegen sein Image, gegen sein Inneres anzustinken. Als Fünfzehnjähriger biss er einer Nutte in Cali die Brustwarze ab – mit echtem Killerinstinkt. Den Bobtail seines verhassten, privaten Fechtlehrers hatte er mit dessen eigenem Florett getötet. Aber das waren Peanuts, nichts als sinnlose Brutalitäten. Nicht dazu angetan, Carlos Caldera irgendeine Form von Achtung zu verschaffen. Eine Nutte kam – wie jede zweite Frau in der kolumbianischen Hierarchie – gleich hinter Legehennen. Und private Lehrer waren ebenso leicht ersetzbar wie Haushunde und anderes Nutzvieh.
Allmählich hatten die Menschen in seiner Umgebung b egonnen, sich vor ihm zu fürchten. Sie spürten, dass die Energien dieses stattlichen jungen Mannes von einem inneren Feuer genährt wurden, das jedem, der sich unvorsichtig lange und intensiv in seine Gesellschaft begab, mehr als nur die Haare versengen konnte. Und seine zügellosen Sex- und Alkoholeskapaden am Wochenende waren nicht geeignet, diese Furcht zu zerstreuen.
Als der junge Carlos nach einem nächtlichen Zug durch die Casinos von Bogotá beim Pinkeln in einem Hinterhof zufä llig Zeuge wird, wie ein vermummter Killer die
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