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Die Maya-Midgard-Mission

Die Maya-Midgard-Mission

Titel: Die Maya-Midgard-Mission Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Sieberichs
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erklang, wie sonst nur bei Westwind das sonntägliche Glockengeläute aus der neuen Kathedrale zu Winchester. Für den Grafen mit dem Beinamen Openeye verkündete die Totenstille dennoch eine deutliche Botschaft. Der schweigende Morgen sang ein Klagelied von der Niederlage des Königs. Harold musste gefallen sein. Nun würde den normannischen Herzog und seine siegreichen Truppen nichts und niemand mehr aufhalten können. Weder als Meldoc Wynfír noch als Openeye wusste der Graf, warum und wie es geschah: Er hatte gelernt, dass alles, was er vor seinem inneren Auge sah, Wirklichkeit werden würde. Früher oder später, doch unabwendbar. Unabhängig von seinen Anstrengungen, die Zukunft zu verhindern und unabhängig auch vom Grad seiner Verzweiflung ob seiner sehenden Ohnmacht, die Visionen erfüllten sich mit unerbittlicher Gewissheit.
    Dennoch ließ der Graf sich von keiner Magie in seiner Entschlus skraft lähmen. Er prüfte die Vorkehrungen, die seine Getreuen getroffen hatten, um dem heranrückenden Feind die Stirn zu bieten: Die Wälle an der Nordseite der Burg waren ausgebessert worden, die Zugbrücke hochgezogen. Leider waren die Wassergräben am Ende eines sehr heißen Sommers nur spärlich gefüllt. Ja, drei besonders trockene Monate, die nun zur Neige gingen, hatten dafür gesorgt, dass vielerorts schon der Grund sichtbar wurde. Der erste Brunnen war bereits vor Wochen versiegt. Doch Openeye wusste, dass selbst die heftigsten Regenfälle seinen nahenden Tod nicht aufhalten würden. Einen traurigen Augenblick lang dachte er an Ansgard, seine geliebte Mutter, und an Eleïn und Gunde, seine Zwillingsschwestern, die selbst angesichts der heraufziehenden Gefahr niemals aufhörten, fröhlich mit den Gänsen um die Wette zu schnattern. Er hatte sie in Erwartung der künftigen Ereignisse mit bewaffnetem Begleitschutz unter Führung seines Onkels, Leif, der sich als fahrender Kaufmann verdingte, die Welt bereiste und mit Bernstein, Kräutern, Getreiden, Honig, Metallen, Pelzen, Pferden, Südfrüchten, Salz, Wachs, Webstoffen, Weinen und allerlei anderen Kostbarkeiten und seltsamen Dingen handelte, nach Norden geschickt, sich für immer von seinen Lieben verabschiedet. Sie müssten schon über die Themse und an London vorbei sein. Ihr Weg würde sie durch die dünnbesiedelten Landstriche East Anglias direkt nach Hoxnet, einem sturmsicheren Hafen an der Ostküste führen. Von dort würde Leif die Flüchtigen mit seinem Drachenboot umgehend in den Schoß der alten Heimat, nach Dhenmark, bringen.
    Der Graf seufzte schwer. So lange er de nken konnte, war er hin- und hergerissen zwischen zwei Welten: Durch seine Adern floss das Blut zweier Völker. Sein Vater war ein angelsächsischer Kriegsfürst gewesen, seine Mutter eine Wikinger-Prinzessin. Von ihr hatte er auch das zweite Gesicht geerbt: diese schreckliche und gleichzeitig gnadenbringende Fähigkeit, kleine und große Schicksale zu sehen, bevor sie sich erfüllten. Diese Gabe bedeutete eine besondere Bürde für jeden, dem sie zu tragen auferlegt war. Zuerst hatte seine Mutter sein Gemüt vor Schaden bewahrt. Sie war stets seine verständnisvolle Freundin gewesen; sie hatte sein Schicksal geteilt; sie wusste, wie grausam sich Menschen verhalten können, die sich vor dem, das sie nicht verstehen, ängstigen. Er hatte gelernt, alleine mit seinen Bildern fertig zu werden, niemandem von seinem inneren Auge zu erzählen. Die Bilder waren zahlreicher geworden. Und vielgestaltiger. Hatten seinen Glauben gestärkt, sein Wissen vermehrt, seinen Blickwinkel verändert. Aber mit jeder neuen Einsicht und Aussicht hatte Ansgard, seine Mutter, ein Stückchen ihrer eigenen Kraft eingebüßt. Bis sie am Ende ihre Gabe völlig an ihren Sohn weitergegeben hatte. Sie bedauerte ihren Verlust nicht, noch bemitleidete sie ihren Sohn. Ansgard hatte gelernt, mit zwei Gesichtern zu leben, und nun hatte sie es eben wieder verlernt. Sie wusste, dass weder sie noch ihr Sohn imstande waren, die Menschen vor Unheil zu bewahren. Sie konnten nur warnen. Und die Menschen konnten sich nur selbst helfen. Jeder einzelne von ihnen war für sich selbst verantwortlich. Was immer Seher auch sahen. Auch Meldoc würde im Laufe seines Lebens zu dieser Einsicht gelangen. Mit ihrem praktischen Verstand erkannte Ansgard, dass sie ihren Sohn nicht lehren musste, was der ohnehin schon wusste.
    Dennoch sprach sich nach dem Tode des ersten Grafen von Gree nwold Forest in Windeseile herum, dass der junge Graf ein

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