Die Maya-Midgard-Mission
sämtliche Gefühle hinweggesetzt, um ihr Ziel zu erreichen. Um sich ihr Leben endlich nehmen zu können, hatte sie Daria die Mutter und Daria die Ex-Ehefrau und Daria die Familienmanagerin und Daria die Funktionierende in Flensburg zurückgelassen. Noch wusste sie nicht, welchen Preis sie für das Wagnis persönlicher Freiheit zahlen würde. Sie wusste nur, dass ihr keine Wahl blieb, als sich genau das Leben zu nehmen, das ihr Überleben sichern würde.
Also, was hatten ihr e Träume, die Mumie und die Bücher der Sechsten Sonne miteinander zu tun? Sie fühlte, dass es einen Zusammenhang gab, geben musste. Daria brauchte spektakuläre Ergebnisse nicht nur, um ihre angekratzte, berufliche und persönliche Reputation aufzupolieren. Sie brauchte irgendeine vorzeigbare Beute, am besten einen Volltreffer, wenn nicht die gesamte Expedition scheitern sollte. Die hochauflösenden Fotos ihres toten Nordmannes waren eindeutig. Die Aufmerksamkeit des Publikums wäre dem 'Maya-Midgard-Projekt' gewiss. Aber würde das ihrem New Yorker Geldgeber reichen?
Willi am Peter Kautsky geisterte durch alle Gazetten mit seinem angekündigten Holocaust-Mahnmal. Sollte er sich endgültig für dieses Projekt im Dunstkreis eines Steven Spielberg und dessen Shoah-Leuten entscheiden, dann waren die Bücher der Sechsten Sonne älter als der israelische Premier von Vorgestern. Sie brauchte den schnellen Erfolg, damit nicht andere die Früchte ihrer Arbeit ernten würden. Aber ein Wikinger bedeutete noch keine 'Maya-Midgard-Verbindung'. Und die Einschusswunde würde Zweifel an der Seriösität ihres Fundes nähren. Schon spürte Daria wieder die Knötchen in der Brust.
Noch heute würde sie die endgültige Dia gnose erhalten. Obwohl der Tumormarker deutlich angezeigt hatte, was zu befürchten war, wollte sie der Hoffnung bis zuletzt Freiraum lassen. »Können vor Angst!« Die Bücher der Sechsten Sonne würden ihre Rettung sein. Die Sechste Sonne: An ihren Strahlen wollte Daria sich wärmen, mit ihrem Licht der drohenden Dunkelheit enteilen.
Ihr Programm konstruierte aus den drei Dutzend Digitalfotos, die sie vor wenigen Minuten von ihrem Nordmann gemacht hatte, 3-D-Gesamtansichten. Schädel, Hals und Torso der Mumie waren freig elegt. Und von den beiden unterschiedlichen Wunden gab es jeweils eigene Ansichten aus drei Blickwinkeln.
In forensischer Traumatologie war Daria Delfonte keine Expertin. Aber immerhin konnte sie ein Eintritts- von einem Austrittsloch u nterscheiden – und eine Pfeil- oder Speerwunde von einer Schusswunde. Die Fotos ließen keine Zweifel offen: Der Nordmann hatte sich einen Kampf mit gut bewaffneten Gegnern geliefert. Beide Verletzungen schienen aber nicht tödlich gewesen zu sein. Jedenfalls nicht unmittelbar. Daria zoomte über die linke Schulter ihres Wikingers. Zum wiederholten Male wunderte sie sich über die aufrechte Bestattung der Mumie. Was für eine winkelige Struktur durchzog die Erde hinter dem Leichnam? Ein Kreuz? Ein Türsturz?
Die Archäologin griff erneut zu ihrem Werkzeug und legte sich bäuc hlings an den Rand der Grube. Sie kratzte Steinchen, Muschelkalk und Erde über der Schulter des Wikingers weg und beförderte den Aushub in die Kiste mit dem Siebboden.
"Wicki war ein Wächter", murmelte sie. "Und in der Kammer hinter ihm sind die Bücher der Sechsten Sonne versteckt. Halleluja! Und ein Königreich für eine Schaufel…" Dann verstummte sie und widmete sich ganz der monotonen Arbeit.
Generationen von Glücksrittern, Geleh rten und Geistlichen hatten die sagenumwobenen Bücher der Sechsten Sonne über die Jahrhunderte gesucht und nie gefunden. All die Abenteurer, die weltlichen wie die geistlichen, hatten, wenn nicht handfeste Hinweise und Spuren, so aber doch eine Fülle von Mosaiksteinchen zur weiteren Legendenbildung beigetragen. So war es zu erklären, dass die Wissenschaft von heute nicht viel mehr wusste, als dass diese Bücher existierten oder zumindest existiert hatten. Ob sie nichts weiter als eine Schatzkarte oder gar das kulturelle Vermächtnis eines hochentwickelten Volkes darstellten, blieb Spekulation. Über den Wert, den Gegenstand und den Aufenthaltsort der Bücher der Sechsten Sonne gab es Hunderte Quellenangaben aus der Geschichte. Daria Delfonte kannte die meisten. Aber die historischen Quellen hatten sie den Büchern keinen Schritt näher gebracht. Dass sie nun ausgerechnet diesen erst im Nachhinein ungewöhnlichen Tempelberg auf der Halbinsel Yukatan löcherte wie einen
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