Die Maya-Midgard-Mission
P. Kautsky gefunden.
Daria wusste, dass ihr Mäzen nichts mehr schätzte, als das Prickeln und die nervöse Hochspannung, die jeder Grabung und jedem Fund einhergingen. Der Mann liebte es fast wie Daria selbst, wenn die Beweise für ihre verwegenen Theorien wieder einmal das Licht der Gegenwart erblickten. Darum wollte er auch ständig auf dem Laufenden gehalten werden. Wie würde er auf die Mumie reagieren? Sie musste ihn überzeugen, dass der Grabhügel eine Art Meilenstein darstellte, vielleicht eine kultische Sammelstelle, eine Art Bibliothek phänomenologischer Natürlichkeiten, ähnlich dem Sillbury Hill im Süden Englands. Doch um sich selbst von dieser These zu überzeugen, brauchte sie weit mehr Indizien als eine Mumie. Was hatte sie da bloß gefunden?
Der Hügel war ihr dank einer eher konventionellen Methode aufgefa llen. Eine sorgfältige Stratigraphie mit anschließender elektromagnetischer Durchleuchtung des Erdhaufens unweit der historischen Stätte von Toxtlipan, einige Helikopterrunden mit Radar- und Infrarotsensoren, ein paar Tage im Staub der Vergangenheit wühlen, und schon steckte das Ergebnis der Grabungen zwischen ihren Knien. Was blieb war ein Geduldsspiel: das akribische Freilegen der Fundstücke und ein seltsames, nicht weichen wollendes Gefühl des Déjà-vu. Kannte sie den Hügel? Aber woher? Aus einem vergessenen Quellenstudium? Aus einer anderen Zeit, einer anderen Existenz? Oder war es nur die Routine der Arbeitsabläufe, die ihr das Gefühl des Bekannten oder bereits Erlebten vorgaukelten?
Daria Delfonte nahm einen anderen Pinsel mit längeren Borsten und reinigte die brüchige Lederhaut, die sich über das Stirnbein des Schädels spannte, mit sanft kreisenden Bewegungen. Sie schob ihre Lesebrille auf die Nase und näherte sich dem mumifizierten Gesicht bis auf Zentimeter. Es roch nach Erde und nach der Feuchtigkeit eines Herbstwaldes. Keine Spur von Moder oder Fäulnis. Daria schloss die Augen, näherte sich dem Gesicht weitere Millimeter, schnupperte. Es roch nach Moschus, mit einer Prise Kohlenstaub und einem Hauch von Kardamon. Alles in allem kam der Nordmann olfaktorisch 'verblüffend frisch und männlich rüber', hätte Tony Larkins gesagt.
"Be sser als optisch", dachte Daria und öffnete ihre Augen wieder. "Schau dir in die Augen, Kleiner", sagte sie und schob die Lesebrille über die Stirn. "Was haben wir denn hier für hübsche Muster?"
Mit Hil fe ihrer Spiegelreflex-Kamera schoss sie eine weitere Serie von Nahaufnahmen des mumifizierten Schädels aus allen nur erdenklichen Perspektiven. Anschließend übertrug sie die Daten auf die Festplatte ihres PCs. Dieser schnelle und denkbar einfache Vorgang ersparte ihr mühevolle Katalogisierungsarbeiten und ermöglichte es so ganz nebenbei, ihrem Sponsor per Mail ein höchst willkommenes Appetithäppchen vom neuesten Forschungsstand des 'Maya-Midgard-Projekts' zu kredenzen.
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10 DER EROBERER
ENGLAND, Greenwold Forest, 16. Oktober 1066
Beim ersten Morgengrauen war Meldoc Wy nfír, der letzte Graf von Greenwold, vom Landvolk Openeye gerufen, auf den Beinen.
Über den aufglühenden Herbsthimmel quollen schwere Wolken he ran, verschmolzen ineinander und türmten sich zu gewaltigen Wetterbauwerken auf. Doch die höhersteigende Sonne würde die Wolkenschlösser zum Einsturz bringen, noch ehe sich genügend Kraft zum Blitzangriff gesammelt hätte. Bestimmt würde der ewige Widerstreit der Himmelsmächte nicht ohne Kampfgeschrei und Waffengeklirre abgehen. Aber mehr als ein Gewitter – bestenfalls Schauerböen von heftiger Kürze – würde beim Zusammenprall der himmlischen Heerscharen nicht zustande kommen.
Die Sonne hatte nun die Wipfel der höchsten Eichen von Greenwold Forest erklommen. Die Wiesen am Waldrand atmeten den Morgenn ebel aus. Das schwarze Samttuch der vergangenen Nacht wurde vom ungestümen Heranstürmen des taufrischen Tages endgültig in Fetzen gerissen. Doch es schien Meldoc Wynfír, als tauche der Schein der aufgehenden Sonne die Welt in ein blutrotes Licht. Der Graf stand reglos hinter dem höchsten Wehr seiner Burg, beobachtete die dramatische Wandlung von Nacht zu Tag und erschrak vor dem plötzlichen Wechsel des Geschehens.
Stille senkte sich wie ein Leichentuch über den Tag. Kein Vogelg ezwitscher, kein Windhauch mehr. Nicht einmal der Eichelhäher ließ aus der Ferne seinen Ruf erschallen. So gründlich und jäh war der anbrechende Tag verstummt, dass der eigene Herzschlag hell und klar
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