Die Maya-Midgard-Mission
die Rituale, ihren Adler zu rufen und gemeinsam mi t ihm in majestätische Höhen aufzusteigen.
Ein akustisches Signal zeigte ihr an, dass sie eine Email erhalten hatte. Sofort beschleunigte sich Daria Delfontes Puls. Dr. Gimenez, ihr Onkologe vom Amerigo-Vespucci-Hospital in Mexiko-Stadt hatte sich für den Morgen angekündigt. Die Diagnose? Darias Vorahnungen krochen wie elektrische Ströme an ihrer Wirbelsäule hoch. Gleich den seismischen Vorboten eines nahenden Bebens störten diese winzigen Schockwellen das elektromagnetische Feld ihres Organismus'. Vielleicht waren es auch immer noch die Nachwehen des Traums, die ihr das hartnäckige Gefühl bescherten, neben sich zu stehen, sich selbst bei all ihren Handlungen im Zeitlupentempo zu beobachten. Den galligen Geschmack von Angst im Mund, die Witterung aufbrechender Mysterien in der Nase und den Druck alltäglicher Probleme im Nacken, fühlte sie sich dennoch seltsam beschwingt. »Posttraumatischer Adrenalinrausch!«, sagte eine innere Stimme. Wahrscheinlich hatte die gar nicht so unrecht, würde es doch dieses hartnäckige Gefühl von Déjà-vu, das beinahe schon die Qualität eines Déjà-vécu angenommen hatte, erklären. Sie holte tief Luft und blies ihre Backen auf. Manche Tage waren nicht enden wollende Tortur. Anti-Stress-Atmen hatte sie während einer klaustrophobischen Höhlenbegehung im Schweizer Jura gelernt. Sie spürte, wie eine Woge innerer Spannung sich in ihr aufbaute – gleich einer Wellenwand nach einem unterseeischen Beben. Natürlich wusste sie, dass es genau diese Art von Spannung war, die sich so schwer abbauen ließ, die zu einem Stau oder Überdruck führte, der dann wiederum krankhaftes Zellwachstum nach sich zog...
Daria atmete heftig und presste ihre Hände auf den Solarplexus. Es war ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie die Antwort in der Email schon kannte. Ihr Verstand hatte längst begriffen, was ihr Gefühl nicht wahrhaben wollte. Doch ihre Emotionen empfand sie als Verbündete im Kampf gegen den Krebs – ihren Verstand nicht unbedingt – und deshalb ließ sie die Mailbox einen endlos langen Augenblick geschlossen.
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Der gute Dr. Gimenez hatte sich alle Mühe gegeben. Sein Brief war einfühlsam und optimistisch.
" Ich werde nicht schreien!", dachte Daria und hieb mit der flachen Hand auf die Tastatur vor ihr.
»Doch wirst du!«, hörte sie ihre innere Stimme rufen.
Und dann schrie sie. Schrie gegen den prasselnden Regen, gegen die Ungerechti gkeit, gegen die Wut und gegen ihre Angst. Schrie für das Leben. Sie schrie und sie weinte ein wenig, ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Diagnose sei das Schlimmste an jeder Krankheit, hatte ihr Chiclana Cissé beigebracht. Das Schlimmste hatte sie also demnach hinter sich. Nun konnte es nur noch besser werden. Wie ängstlich sie sich benahm. Wie trotzig. Wie ein verlassenes, nein, wie ein verzogenes Kind. Einfach lächerlich!
»Aber du bist ein verlassenes Kind«, sagte ihre innere Stimme entschieden. »Du hast alles Recht, dich zu benehmen, wie es deinen Gefühlen entspricht. Also, tu das auch, sonst wirst du am Ende wirklich noch ernsthaft krank«.
Zum wievielten Male an diesem verrückten Tag füllte Daria ihre Lu ngen tief mit Luft? Wie ein Taucher, der an die Oberfläche zurückkehrt, versuchte sie ihren Atem zu schmecken, was in einem unbeholfenen Japsen endete. Sie lachte leise und murmelte wie im Stoßgebet vor sich hin: "Ich werde wieder leben. Ich werde die Bücher finden. Und mit ihnen die Antworten auf all meine Fragen. Dann werde ich mir einen Menschen suchen, mit dem ich dies alles teilen kann. Einen lebendigen, warmen, heiteren, bejahenden, geerdeten Menschen. Ich werde ihn finden, damit sich mein Leben lohnt. Ich werde nicht an der Schwelle zum größten Geheimnis meines Lebens sterben. Kommt nicht in Frage! Ich bin schon so gut wie gesund. Ich bin stark!"
Zur Ablenkung überflog sie Anwaltsrechnungen, Werbeprospekte, die Anpreisung eines digital gesteuerten Jungbrunnens. Dann öffnete sie lustlos einen dicken Manila-Umschlag ohne Poststempel, undatiert und ohne Absender und vertiefte sich mit zunehmendem Staunen in den Inhalt. Die Überraschungen dieses Tages wollten kein Ende nehmen.
Auf einem weißen Blatt Papier waren schwarze Graphiken angeor dnet, die sie in ihrer filigranen Formenvielfalt an prähistorische Höhlenmalereien aber auch an geometrische Figuren erinnerten. Auf einem zweiten Blatt klebten Fotos von einem Weizenfeld im südenglischen
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