Die Maya-Midgard-Mission
braungebrannt wie Freitag, dein Haar hat seit Monaten keine Schere mehr gesehen und ist golden wie die untergehende Südseesonne, barfuß laufen kannst du im Garten, Papa hat dir ein Blockhaus gebaut und – wenn du mich fragst –, die Kapistrani-Kinder von nebenan sind halbe Kannibalen. Du brauchst keine Insel, du hast deine Fantasie. Gebrauche sie!"
Heute war Daria fast vierzig Jahre älter. Aber ihre Mähne schimmerte immer noch in wärmsten Goldtönen, wenn man von den ve reinzelten grauen Haaren absah, die der Kummer oder der Krebs oder beide hineingeflochten hatten. Ihre Haut war immer noch braungebrannt, und ihr Traum blieb bislang unerfüllt. Sicher, sie war dem Rat ihrer Mutter gefolgt; sie hatte sich mit Fleiß und Fantasie auf eigene Füße gestellt; sie hatte sich zu einer ernstzunehmenden Wissenschaftlerin emporgearbeitet; und schließlich war sie zu einem Menschen mit Zielen und Visionen gereift.
Angefangen hatte ihr Interesse für das Vergangene mit den Sprachen der alten Völker. Daria konnte sich ähnlich wie Heinrich Schliemann, das Idol der jungen, schwärmerischen Archäologiestudentin und der Entdecker des antiken Trojas, in eine fremde Sprache hineindenken. Ihre deduktiven Fähigkeiten hatten ihr aber nicht nur das Studium lateinischer, hebrä ischer oder assyrischer Texte erleichtert, sondern ihr auch einen ersten Einblick in die sozialen Verhältnisse der Kulturen, die sie über deren Sprache erforschte, verschafft. Doch nur kurze Zeit nachdem sie begonnen hatte, ihre Fähigkeiten in der Praxis zu erproben, war sie Herbert begegnet und mit ihm für anfangs glückliche Jahre einem völlig anderen Weg gefolgt. Dylan und Georgia, die Zwillinge, hatten einen Großteil ihrer Wärme und Energie aufgesaugt; das Interesse am Beruf kochte auf sehr kleiner Flamme. Vielleicht waren es auch die Kinder mit ihren stetig wachsenden Bedürfnissen, die Darias Begeisterung für die Archäologie in eine neue Richtung gelenkt hatten. Als Dylan und Georgia groß genug für die weiterführende Schule waren, hatte Daria einen Wiedereinstieg gewagt.
Wie haben Menschen zu allen Zeiten gelebt? Das war die Frage, die sie beschäftigte. Besonders über die Rolle der Frau in der Vergange nheit wollte sie sich fortan Gedanken machen.
Als Herbert starb – sie verließ – , war sie gerade als Teilnehmerin an einem Projekt in experimenteller Archäologie aus Südeuropa zurückgekehrt. Neun Monate lang hatte sie zusammen mit sieben anderen Männern und Frauen in einer Höhle in den spanischen Pyrenäen als Jäger und Sammler gelebt und gelernt, wie ein Crô-Magnon-Mensch zu denken und zu handeln. Als sie heimkehrte, musste sie sich jäh auf die Verhaltensweise einer betrogenen Ehefrau der Neuzeit einrichten. Das war vor drei Jahren gewesen. Der Schock über den völlig unerwarteten Ausbruch ihres Mannes, Partners, Vertrauten und bis dato besten Freundes saß tief. Schuldgefühle, weil sie Herbert für Monate alleingelassen hatte, kamen hinzu. Unausgesprochene Vorwürfe ihrer jung erwachsenen Kinder belasteten wie große Tiefdruckgebiete das Familienklima zusätzlich. Besonders Georgia hatte sich eine Ersatzfamilie gesucht, als wolle sie ihre Mutter durch Liebesentzug bestrafen. Ihre Abnabelung gipfelte in dem Vorwurf des letzten Telefonats.
Daria Delfonte musste sich den Schuh a nziehen, jedenfalls, wenn sie ehrlich mit sich selbst war. Wenn die Summe der Zeit, die sie im Vergleich zu manch bravem Hausmütterchen für ihre Kinder aufgebracht hatte, der Indikator für perfekte Mutterschaft war, dann hatte sie versagt. Das schlechte Gewissen, die Familie zu vernachlässigen, hatte sie bei allen beruflichen Erfolgen hartnäckig begleitet. Aber die Begeisterung für ihre Arbeit hatte stets Oberwasser behalten. Zum ersten Mal schoss ihr hier eintausend Meter über Jamaika jäh in den Sinn, dass eine Rabenmutter vielleicht auch nicht gerade die perfekte Ehefrau abgab. Sie hatte das alles noch längst nicht verstanden, geschweige denn verarbeitet. Warum hatte Herbert sich auf dieses junge Ding, das mit viel gutem Willen auf Georgias Alter geschätzt werden konnte, eingelassen? Hatte sie ihn so vernachlässigt? Wohin war ihre Liebe verschwunden? Hatte sie sich das Vertrauen und die Zuneigung der vergangenen Jahre bloß eingebildet? Und dann war er ohne ein Wort, einfach so, gestorben. Die Grabung im Mayaland war ein Glied in einer Kette kleiner Fluchten. Solange sie im Staub der Jahrhunderte wühlen konnte, musste sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher