Die Maya-Midgard-Mission
Geist ihr während des Schlafes in einer Emailleschüssel vor die Tür gestellt haben musste und übe rlegte dabei, wie um alles auf der Welt frau sich für ein karibisches Freiluft-Festmahl unterm Sternenhimmel kleiden solle.
»Bleib wie du bist!« , ertönte es nur für sie hörbar.
Aber mit soviel kecker Körperlichkeit mochte Daria sich dann doch nicht unter Menschen wagen. Sie entschied sich für ein schlichtes, luftiges, purpurnes Seidenkleid, das mit winzigen, gelben Mondsicheln übersät war. Die Wahl fiel ihr leicht, denn das Mondkleid war die ei nzige Extravaganz in ihrem Gepäck. Auf ihrem Nachttisch stand ein ovaler Spiegel mit einem Rahmen aus Mahagoni. Sie nahm ihn, fuhr damit an den Rundungen ihres Körpers vorbei und begutachtete die Problemzonen. Der Bauch war flach, das Gewebe immer noch straff, aber am Po und den Hüften waren erste Spuren von Orangenhaut zu erkennen. Daria kniff sich kräftig in das weiche Fleisch an der Innenseite eines Oberschenkels und guckte, wie ihre Fingerkuppen weiße Spuren auf der Haut hinterließen und langsam das Blut in die Kapillargefäße zurückfloss. Nein, das waren keine Problemzonen. Nicht ihre Beine. Und auch nicht der Rest. Lebenszeichen würde sie es nennen. Haut, die sich veränderte, alterte, aber lediglich als Ausdruck von Lebendigsein. Die Knoten an ihrer Brust ignorierte sie tapfer.
Daria hatte nie den Ehrg eiz gekannt, Spielball einer unfassbaren Unendlichkeit werden zu wollen. Altern und Vergänglichkeit brachten Chaos in eine Ordnung, die ohne das Chaos, also ohne das unberechenbare Moment des Lebendigen, keinen Sinn haben würde. Es galt, das Hier und Jetzt zu gestalten und nicht, sich freiwillig ins Gefängnis irrealer Ideale namens Ewige Jugend einzusperren, noch sperren zu lassen; es galt, den Augenblick zu genießen. Und das bedeutete: Genuss nicht als Völlerei mit Genussmitteln zu definieren, sondern als Geschenk wundervoller Augenblicke, die man mitgestalten durfte, um sie – bereichert durch die individuelle Kreativität – weiterzugeben. Genießen konnte man nur in dem Bewusstsein, dass diese Augenblicke kostbar sind und einzigartig. Lebensspanne nannten die Menschen eine Aneinanderreihung dieser Kostbarkeiten. Wie bei einer Perlenkette bestand der Wert des gesamten Geschmeides nicht nur aus der Schönheit der einzelnen Perlen, sondern auch aus ihrer begrenzten Anzahl. Diese Kette ins Unendliche zu verlängern, hieße, sie zu entwerten.
Daria streifte das Seidenkleid über ihre nackte Haut, wunde rte sich über die neue Gedankenflut und drehte sich spielerisch auf Zehenspitzen einmal um die eigene Achse.
»Frivol!« , kreischte Stimmchen stimmlos.
Und Daria sagte laut: "Ja!" und war überhaupt nicht zerknirscht. Sie liebte das starke Körpergefühl, wenn sie sich nicht in enge Unterwäsche einzwängen musste. Sie liebte das Luftige, und sie liebte auch die unterschwellige Frivolität, von der sie sich gerne stimulieren ließ, um ihrem Dasein als Witwe wenigstens ab und an einen Hauch erotischen Schwungs zu verleihen. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und fing an, die Zehennägel, unter denen noch Reste yukatekischer Erde zu erkennen waren, zu schneiden und zu lackieren. Plötzlich und ohne Vorwarnung tauchte ein Bild in ihr auf, das nur das Ergebnis ihrer jüngsten Grübeleien sein konnte.
Herbert saß im Schatten unter dem großen Hickorybaum im Garten ihres Ferienhauses in Savannah, kaute auf seinen geliebten Pekannü ssen, schaukelte auf seinem Lieblingsstuhl, dem alten Rattanungetüm seines Großvaters Homer, und presste sich eine eisgekühlte Büchse mit französischem Mützig-Bier an die Stirn. Seine Augen glänzten wie von einem Stern erhellt, sein Blick schweifte in unsichtbare Fernen, und strahlend dozierte er: "Ich habe gelebt und geliebt, und ich habe gerne gelebt. Ich habe Freude verschenkt und Glück genommen. Ich habe meine Spur in der Welt hinterlassen; und ist sie auch winzig klein, kaum wahrnehmbar, so gibt es doch Menschen, die sie sehen und fühlen: Da bist du, Daria, Dylan und Georgia, unsere Kinder, Freunde, Kollegen, wer weiß? Fremde vielleicht, von denen wir gar nichts wissen. Nicht einmal wissen, dass sie gelebt haben. Deren Weg wir aber dennoch kreuzten. Ich bin meinen Weg gegangen, bis an ein Ende, das meines nicht war. Und auch deines nicht ist; denn dein Weg ist noch lang. Und wäre ich traurig über das eine Ende oder wütend oder verzweifelt gar, dann hätte ich den anderen Anfang nicht gefunden.
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