Die Mayfair-Hexen
singen, bevor sie anfangen, aus Balken das Gerüst zu bauen, mit dem wir ihn aufrichten werden. Alle haben ihre Puppen gemacht. Man kann die Unterschiede erkennen; jede Puppe sieht irgendwie so aus wie der, der sie gemacht hat. Ich bin schläfrig. Hungrig bin ich auch. Ich will tanzen. Ashlar ruft alle zur Ordnung.«
»In einer Viertelstunde sind wir am hinteren Tor«, warf Mary Jane ein. »Also halte die verheulten kleinen Guckerchen offen.«
»Sprich kein Wort mit den Sicherheitsleuten«, sagte Mona. »Um die kümmere ich mich. Woran erinnerst du dich sonst noch? Sie schaffen den Stein in die Ebene. Wie heißt die Ebene? Sag es in ihrer Sprache.«
»Ashlar nennt sie einfach ›das flache Land‹ oder ›das sichere Land‹ oder ›das Grasland‹. Wenn ich es richtig sagen soll, muß ich sehr, sehr schnell sprechen,und für euch hört es sich dann an wie ein Pfeifen. Aber jeder kennt diese Steine. Das weiß ich. Mein Vater kennt sie; er hat sie gesehen. Gott, glaubt ihr, es gibt noch jemanden wie mich auf der ganzen Welt? Glaubt ihr nicht, daß es noch jemanden geben muß? Noch jemanden außer denen, die unter dem Baum begraben liegen? Ich kann doch nicht die einzige sein, die lebt!«
»Beruhige dich, Honey«, sagte Mary Jane. »Wir haben jede Menge Zeit, das rauszukriegen.«
»Wir sind deine Familie«, sagte Mona. »Vergiß das nicht. Was immer du sonst sein magst, du bist Morrigan Mayfair, von mir zur Erbin des Vermächtnisses ernannt, und wir haben eine Geburtsurkunde und einen Taufschein und fünfzehn Polaroidfotos mit meinem feierlichen Ehrenwort hinten draufgeklebt.«
»Irgendwie klingt das unzureichend.« Morrigan weinte jetzt; sie machte ein Schmollmündchen wie ein Baby, und die Tränen ließen sie blinzeln. »Hoffnungslos aufgesetzt, und möglicherweise juristisch irrelevant.« Sie waren inzwischen in Metairie, und der Verkehr wurde dichter. »Vielleicht ist ein Videoband nötig, was meinst du, Mutter? Aber letzten Endes genügt gar nichts außer der Liebe, nicht wahr? Warum sprechen wir überhaupt von juristischen Dingen?«
»Weil sie wichtig sind.«
»Aber Mutter, wenn sie mich nicht lieben…«
»Morrigan, wir machen ein Video in der First Street, sobald wir da sind. Und du wirst deine Liebe bekommen; denk an meine Worte. Ich werde dafür sorgen. Ich werde nicht zulassen, daß diesmal etwas schief geht.«
»Wie kommst du auf diese Idee bei all deinen Vorbehalten und Ängsten und deinem Verlangen, dich vor neugierigen Augen zu verstecken?«
»Weil ich dich liebe. Deshalb komme ich auf diese Idee.«
Die Tränen sprangen Morrigan aus den Augen wie aus einem Regenrohr. Mona konnte es kaum ertragen.
»Sie brauchen keine Pistole zu benutzen, wenn sie mich nicht lieben«, sagte Morrigan.
Unsagbarer Schmerz, mein Kind, ist dies.
»Zum Teufel damit.« Mona bemühte sich, sehr ruhig, sehr beherrscht zu klingen, wie eine erwachsene Frau. »Unsere Liebe genügt, und das weißt du! Wenn du die anderen vergessen mußt, vergißt du sie eben.« Sie starrte die anmutige Gazelle an, die den Wagen fuhr und gleichzeitig weinte und jeden, der langsamer fuhr, überholte. Das ist meine Tochter. Monströs war schon immer mein Ehrgeiz, monströs meine Intelligenz, monströs mein Mut, und monströs ist jetzt auch meine Tochter. Aber wie ist ihre Natur – davon abgesehen, daß sie brillant ist, impulsiv, liebevoll, enthusiastisch, supersensibel gegenüber Kränkungen und Freuden und mit einer Neigung zu Sturzbächen der Fantasie und Ekstase? Was wird sie tun? Was bedeutet es, sich an uralte Dinge zu erinnern? Bedeutet es, daß man sie besitzt und von ihnen weiß? Was kann alles dabei herauskommen? Eigentlich ist es mir ja egal, dachte sie. Ich meine, zumindest jetzt, wo es anfängt und wo alles so aufregend ist.
Es war jetzt alles so anders.
»Schon gut, schon gut«, rief Mary Jane. »Laß mich jetzt weiterfahren; hier wird’s ziemlich voll.«
»Du bist verrückt, Mary Jane«, rief Morrigan, und sie beugte sich auf dem Sitz nach vorn und trat aufs Gas, um den Wagen, der von links aufschloß, hinter sich zu lassen. Sie reckte das Kinn nach vorn und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Ich fahre dieses Auto nach Hause. Das möchte ich um nichts auf der Welt versäumen!«
30
Wie mochte es wohl in dieser Höhle sein, fragte ich mich. Die Stimmen der Hölle zu hören, danach hatte ich kein Verlangen, aber den Gesang des Himmels?
Ich überdachte die Sache und beschloß, vorbeizureiten. Ich
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