Die Mayfair-Hexen
Hand: Morrigan konnte sich am Telefon für Mona ausgeben. Sie hatte es ohne Mühe getan, als Onkel Ryan schließlich in Fontevrault angerufen hatte. Was für ein umwerfendes Gespräch das gewesen war! Ryan hatte »Mona« äußerst taktvoll gefragt, ob sie etwa Amphetamine nehme, und sie behutsam daran erinnert, daß alles, was sie einnehme, dem Baby schaden könne. Aber der springende Punkt war, Onkel Ryan war nicht auf den Gedanken gekommen, daß die schnellsprechende, neugierige Frauenstimme am anderen Ende der Leitung gar nicht Mona gehörte.
Sie alle trugen ihre besten Osterkleider, wie Mary Jane es genannt hatte, auch Morrigan, die sie in den Boutiquen von Napoleonville eingekleidet hatten. Das weiße, taillierte Baumwollkostüm hätte Mona und selbst Mary Jane bis zu den Knöcheln gereicht. Bei Morrigan ging es nur bis zum Knie; die Taille war sehr schmal, und der schlichte V-Ausschnitt, Symbol matronenhafter Nüchternheit, wurde auf ihren recht gut entwickelten Brüsten zu einem atemberaubenden Decolleté. Es war die alte Geschichte: Man streife ein schlichtes, einfaches Kleid über ein hinreißend schönes Mädchen, und es wird auffälliger sein als Blattgold und Zobel.
Granny schlummerte in ihrem besten Baumwolljersey-Hosenanzug aus dem Supermarkt unter der Thermodecke. Der Himmel war blau mit prachtvoll weißen Wolken. Mona war es gottlob überhaupt nicht mehr übel; sie fühlte sich nur schwach. Elend schwach.
Sie waren jetzt noch eine halbe Stunde von New Orleans entfernt.
»Was heißt denn hier ›moralische Formalitäten‹?« wollte Mary Jane wissen. »Es sind Fragen der Sicherheit, weißt du, und was meinst du damit, daß du ›die Führung‹ übernimmst?«
»Nun, ich rede von etwas Unvermeidlichem«, sagte Morrigan. »Aber ich möchte es euch Schritt für Schritt beibringen.«
Mona lachte.
»Ah, siehst du, Mutter ist natürlich klug genug, um Bescheid zu wissen und die Zukunft zu erkennen, wie es eine Hexe wohl kann, nehme ich an; aber du, Mary Jane, benimmst dich hartnäckig wie eine Kreuzung aus mißbilligender Tante und Advocatus diaboli.«
»Bist du sicher, daß du weißt, was alle diese Worte bedeuten?«
»Meine Liebe, ich habe den kompletten Inhalt zweier Wörterbücher in mich aufgenommen. Ich kenne alle Wörter, die meine Mutter kannte, bevor ich geboren wurde, und einen großen Teil derer, die mein Vater im Kopf hatte. Woher sollte ich sonst wissen, was ein Steckschlüssel ist und wieso der Kofferraum dieses Autos einen ganzen Satz davon enthält?
Doch jetzt zurück zu diesem kritischen Augenblick: Wo fahren wir hin? In welches Haus? Und all dieser Unfug.«
Sogleich beantwortete sie ihre eigenen Fragen.
»Nun, wie ich es sehe, ist es gar nicht so schrecklich wichtig, zu wessen Haus wir fahren. Die Amelia Street wäre eine schlechte Idee, einfach weil es dort von anderen Leuten nur so wimmelt, wie ihr mir inzwischen dreimal erklärt habt, und auch wenn es in gewissem Sinne das Haus meiner Mutter ist, gehört es doch in Wirklichkeit der uralten Evelyn. Fontevrault ist zu weit weg. Wir fahren nicht mehr zurück, egal, was passiert! Ein Apartment ist ein Unterschlupf, den ich in meiner antizipatorischen Angst nicht ertragen könnte! Ein kleines, unpersönliches Quartier, angemietet unter falschen Voraussetzungen, lehne ich ab. Ich kann nicht in einer Schachtel leben. Das Haus in der First Street gehört Rowan und Michael, das stimmt, aber Michael ist mein Vater! Alles was wir brauchen, ist in der First Street. Ich brauche Monas Computer, ihre Aufzeichnungen, die Blätter, die Lasher vollgekritzelt hat, und die Notizen, die mein Vater in seiner Kopie der berühmten Talamasca-Akte angefertigt hat – alles also, was sich zur Zeit in diesem Hause befindet und worauf Mona unumstrittenen Zugriff hat. Nun, nicht auf Lashers Kritzeleien, aber auch hier handelt es sich wiederum um eine Formalität. Ich beanspruche aufgrund meiner Artverwandtschaft das Recht, diese Aufzeichnungen einzusehen! Und ich habe nicht den leisesten Skrupel, Michaels Tagebuch zu lesen, wenn ich es finde. Und jetzt fangt nicht an zu schreien, ihr beide!«
»Ja, aber zunächst mal könntest du dich ein bißchen bremsen!« schrie Mary Jane. »Und irgendwie krieg ich ein komisches Gefühl in den Knochen, wenn du sagst, du willst ›die Führung übernehmen‹!«
»Laß uns darüber noch ein bißchen ausführlicher nachdenken«, sagte Mona.
»Ihr habt euch in meiner Anwesenheit oft genug gegenseitig daran erinnert,
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