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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hinaufzunehmen und sie im Schlafzimmer auf ein Bord zu stellen. Wer würde sich daran stören? Wer würde es wagen, etwas zu sagen? Reichtum umgibt einen mit seligem Stillschweigen, dachte er.
    Natürlich war seine Firma, dieses Unternehmen, wie Zeitungen und Illustrierte es oft nannten, an die Entwicklung eines industriellen Nährbodens gebunden, den es erst seit dreihundert Jahren gab. Was wäre, wenn ein Krieg ihn vernichtete? Aber Puppen und Spielsachen schenkten ihm eine so süße Glückseligkeit, daß er sich einbildete, in Zukunft nie wieder ohne sie sein zu müssen. Selbst wenn ein Krieg die Welt in Schutt und Asche legen sollte, würde er kleine Figuren aus Holz oder Ton herstellen und sie eigenhändig bemalen.
    Manchmal sah er sich so, allein in den Ruinen. Er sah New York, wie es in einem Science-fiction-Film vorkommen mag, tot und still und erfüllt von umgestürzten Säulen und geborst e nen Giebeln und zersplittertem Glas. Er sah sich selbst auf einer gebrochenen Steintreppe sitzen, aus Holzstücken eine Puppe machen und sie mit Stoffstreifen zusammenbinden, die er zuvor ruhig und respektvoll vom seidenen Kleid einer toten Frau abgerissen hatte.
    Wer hätte gedacht, daß solche Dinge einmal seine Leidenschaft erwecken würden? Daß er vor hundert Jahren bei e i nem Spaziergang durch eine winterliche Straße in Paris stehen bleiben und in ein Schaufenster schauen würde, in die gläsernen Augen seiner Bru, und daß er sich leidenschaftlich verlieben würde?
    Natürlich war sein Volk schon immer für seinen Hang zu Spiel, Freude und Fröhlichkeit bekannt gewesen. Vielleicht war das alles gar nicht überraschend. Freilich – ein Volk zu studieren, wenn man zu seinen wenigen überlebenden Exemplaren g e hörte, war schon eine verzwickte Angelegenheit, zumal für einen, der medizinischer Philosophie und Terminologie wenig Liebe entgegenbrachte, der ein gutes, aber ganz und gar nicht übernatürliches Gedächtnis besaß, dessen Gefühl für die Vergangenheit oft absichtlich zugunsten eines »kindlichen« Ei n tauchens in die Gegenwart aufgegeben wurde, einer allgemeinen Furcht vor dem Denken in Kategorien der Jah r tausende oder Äonen, oder wie immer die Menschen die gr o ßen Zeitspannen nennen wollten, die er mitangesehen, durchlebt, mühsam überstanden und schließlich fröhlich ve r gessen hatte im Laufe seiner großartigen Unternehmung, die so gut zu seinen wenigen und besonderen Talenten paßte.
    Es hatte wieder zu schneien eingesetzt. Die Flocken waren so winzig, daß er sie kaum sehen konnte. Sie schienen zu schmelzen, wenn sie die dunklen Straßen dort unten berüh r ten.
    Der Himmel war schwarz. Das war das einzige, was ihm am Schnee nicht gefiel. Man verlor den Himmel, wenn man ihn bekam. Und er liebte den Himmel über New York City so sehr, das ganze Panorama des Himmels, das die Menschen unten auf der Straße nie wirklich zu sehen bekamen.
    »Türme – bau ihnen Türme«, sagte er sich. »Ein großes Museum hoch oben im Himmel, mit Terrassen ringsherum. Bring sie in gläsernen Aufzügen herauf, himmelwärts, damit sie sehen…«
    Türme für die Freude, zwischen all diesen Hochhäusern, die die Menschen für Geschäft und Profit errichtet hatten.
    Ein Gedanke ergriff ihn plötzlich, ein alter Gedanke eigentlich, der ihm oft kam. Die ersten schriftlichen Zeugnisse auf der Welt waren Warenlisten gewesen. Nichts anderes waren die Keilschrifttafeln, die man in Jericho gefunden hatte: Inventarlisten… und das gleiche galt für Mykene.
    Niemand hatte es damals für wichtig gehalten, seine Ideen oder Gedanken aufzuschreiben. Auch die Gebäude waren ganz anders gewesen. Die großartigsten waren Huldigung s stätten gewesen – Tempel oder große Lehmziegel-Zigguraths mit Kalksteinverkleidung, die die Menschen erklommen hatten, um den Göttern zu opfern. Der Kreis aus Druidensteinen in der Ebene von Salisbury.
    Jetzt, siebentausend Jahre später, waren die größten Bauwerke Geschäftsgebäude. Sie trugen die Namen von Banken und Großkonzernen oder gewaltigen Privatfirmen wie seiner eigenen. Vom Fenster aus konnte er die Namen in hellen, harten Blockbuchstaben durch den verschneiten Himmel brennen sehen, durch die Dunkelheit, die nicht richtig dunkel war.
    Die Schreiber von Jericho hätten diesen Wandel verstanden, dachte er. Andererseits – vielleicht auch nicht. Er verstand ihn ja selbst kaum, aber die Implikationen erschienen ihm um e i niges gewaltiger und wunderbarer, als die Menschen ahnten.

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