Die Mayfair-Hexen
Furchtsam schaute er auf sein Handgelenk. Da waren ein paar weiße Haare; sie mischten sich unter die dunklen, die seinen Arm seit so vielen Jahren bedeckten.
Taltos! Talamasca’. Die Welt wird einstürzen…
»War das richtig, Sir? Mit dem Telefonanruf?« fragte Remmick in jenem wunderbaren, beinahe unhörbaren britischen G e murmel, das sein Arbeitgeber so sehr liebte. Viele Leute hä t ten es Genuschel genannt.
»Ja, allerdings, es war richtig, Remmick. Sagen Sie mir immer sofort Bescheid, wenn es Samuel ist. Ich muß nach London, und zwar sofort.«
»Dann muß ich mich beeilen, Sir. La Guardia war den ganzen Tag geschlossen. Es wird sehr schwierig werden…«
»Dann beeilen Sie sich bitte.«
Er nippte an seiner Schokolade. Nichts schmeckte voller, s ü ßer oder besser – vielleicht mit Ausnahme von unverfälschter frischer Milch.
»Noch ein Taltos«, flüsterte er laut und stellte die Tasse ab. »Dunkle Zeiten in der Talamasca.« Er war nicht sicher, ob er das glaubte.
Remmick war gegangen. Die wunderschöne Bronze glühte, als wäre sie heiß. Eine Lichtspur zog sich über den Marmorboden, die in die Decke eingebettete Lampe spiegelte sich darin, fast wie der Mond im Meer.
»Noch ein Taltos, und er war männlich.«
So viele Gedanken jagten ihm durch den Kopf, ein solcher Wirrwarr von Emotionen! Einen Augenblick lang glaubte er, er werde in Tränen ausbrechen. Aber nein. Es war Zorn, was er da empfand, Zorn darüber, daß er sich von dieser kurzen Nachricht wiederum hatte auf die Folter spannen lassen. Daß er jetzt Herzklopfen verspürte und übers Meer flog, um mehr über einen anderen Taltos zu erfahren, der doch schon tot war – einen männlichen.
Und die Talamasca – da waren also dunkle Zeiten für sie a n gebrochen, wie? Nun, war das nicht unausweichlich gewesen? Und was hatte er damit zu schaffen? Mußte er sich schon wieder in all das hineinziehen lassen? Vor Jahrhunderten ha t te er einmal an ihre Tür geklopft. Aber wer von ihnen wußte das jetzt noch?
Ihre Gelehrten kannte er von Ansehen und dem Namen nach, nur weil er sie genug fürchtete, um sie im Auge zu behalten. Im Laufe der Jahre hatten sie nie aufgehört, in das Glen zu kommen…
Warum hatte er jetzt das Gefühl, er sei es ihnen schuldig, schützend einzugreifen? Weil sie ihm einmal ihre Tür geöffnet, weil sie ihm zugehört und ihn gebeten hatten zu bleiben? Sie hatten über seine Geschichten nicht gelacht, und sie hatten versprochen, sein Geheimnis zu bewahren. Und die Talama s ca war alt, genau wie er. Alt wie die Bäume in den großen Wäldern.
Wie lange war das her? Bevor es das Londoner Haus geg e ben hatte, lange vorher, als in dem alten Palazzo in Rom noch die Kerzen gebrannt hatten. Keine Aufzeichnungen, hatten sie versprochen. Keine Aufzeichnungen, und dafür hatte er ihnen alles erzählt… Es sollte unpersönlich bleiben, anonym, ein Quell von Legenden und Tatsachen, von Wissensbröckchen aus fernen Zeiten. Erschöpft hatte er unter jenem Dach g e schlafen; sie hatten ihn getröstet. Aber letztlich waren sie g e wöhnliche Menschen, vielleicht geleitet von einem außergewöhnlichen Interesse, aber gewöhnliche, kurzlebige Menschen voller Ehrfurcht vor ihm – Gelehrte, Alchimisten, Sammler.
Wie dem auch sein mochte, es war nicht gut, sie in dunklen Zeiten zu wissen, um Samuels Worte zu benutzen, nicht mit all dem, was sie wußten und in ihren Archiven aufbewahrten. Nicht gut. Und aus irgendeinem seltsamen Grund lag ihm dieser Zigeuner im Glen am Herzen. Und seine Neugier brannte hitzig wie immer, was den Taltos und die Hexen anging.
Lieber Gott, schon der Gedanke an Hexen!
Als Remmick zurückkam, hatte er den pelzgefütterten Mantel über dem Arm.
»Kalt genug dafür, Sir«, sagte er, als er ihn seinem Chef über die Schultern legte. »Und Sie sehen bereits so aus, als ob Sie frieren.«
»Es ist nichts«, antwortete er. »Kommen Sie nicht mit hinunter. Sie müssen etwas für mich tun. Schicken Sie Geld ans Claridge’s in London. Es ist für einen Mann namens Samuel. Die Hoteldirektion wird keine Mühe haben, ihn zu identifizieren. Er ist ein Zwerg und hat einen Buckel, und er hat sehr rotes Haar und ein runzliges Gesicht. Sie müssen alles so a r rangieren, damit der kleine Mann genau das hat, was er will. Ach, und er ist in Begleitung. Ein Zigeuner ist bei ihm. Keine Ahnung, was das bedeutet.«
»Sehr wohl, Sir. Der Nachname, Sir?«
»Den weiß ich nicht, Remmick.« Er erhob sich, um zu gehen, und zog
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