Die Mayfair-Hexen
ein Weilchen, und dann wirst du mich wieder hassen, dachte sie.
Ja, du wirst mich verachten. Sie küßte sein Haar, seine Wa n ge, sie rieb die Stirn an seinen harten Bartstoppeln. Sie spürte sein sanftes Seufzen, das gepreßt und schwer war und tief aus der Brust kam.
Du wirst mich verachten, dachte sie. Aber wer sonst kann die Leute jagen, die Aaron ermordet haben?
5
Das Flugzeug landete um dreiundzwanzig Uhr auf dem Flu g hafen von Edinburgh. Ash hatte das Gesicht an die Fenste r scheibe gelehnt und gedöst. Jetzt sah er die Scheinwerfer der Autos gleichmäßig näherkommen. Zwei schwarze Autos, deutsche Autos – Limousinen, die ihn und sein kleines Gefo l ge über die schmalen Straßen nach Donnelaith bringen wü r den. Es war heute kein Treck mehr, den man zu Pferde unternehmen mußte. Darüber war Ash froh, nicht etwa, weil er diese Reisen durch das gefährliche Gebirge nicht geliebt hä t te, sondern weil er das Glen so schnell wie möglich erreichen wollte.
Das moderne Leben hat alle ungeduldig gemacht, dachte er ruhig. Wie oft hatte er sich in seinem langen Leben schon auf den Weg nach Donnelaith gemacht, entschlossen, den Ort seiner tragischen Verluste zu besuchen und noch einmal se i ner Bestimmung nachzuforschen? Manchmal hatte er Jahre gebraucht, um nach England und dann nach Norden in die Highlands zu kommen. Dann wieder waren es wenige Monate gewesen.
Jetzt schaffte er es innerhalb von Stunden. Und darüber war er froh. Denn die Reise dorthin war nie der schwierige oder kathartische Teil gewesen; das war immer der Besuch selbst.
Der Wagen rollte weich davon. Ein geübter Fahrer. Dafür war er auch dankbar; er hätte sich nicht den ganzen Weg bis Do n nelaith hin und her schütteln lassen können. Einen Moment lang sah er die gleißenden Reflexe der Scheinwerfer hinter sich: Die Bodyguards folgten ihm wie immer.
Eine schreckliche Vorahnung erfaßte ihn. Warum diese Strapazen auf sich nehmen? Warum nach Donnelaith fahren? Warum den Berg besteigen und noch einmal diese Schreine der Vergangenheit besuchen? Er schloß die Augen, und eine Sekunde lang sah er das leuchtend rote Haar der kleinen H e xe, die Yuri töricht wie ein kleiner Junge liebte. Er sah ihre harten grünen Augen, die ihm aus dem Bild entgegenstarrten und die Kleinmädchenfrisur mit der bunten Schleife verhöh n ten. Yuri, du bist ein Narr.
Der Wagen wurde schneller.
Durch die dunkel getönten Fensterscheiben konnte er nichts sehen. Beklagenswert. Regelrecht ärgerlich. In den Staaten hatten seine eigenen Autos keine getönten Scheiben. Seine Privatsphäre hatte ihn nie gekümmert. Aber die Welt in ihren natürlichen Farben zu sehen, das war etwas, das er brauchte wie die Luft und das Wasser.
Ah, aber vielleicht würde er ein bißchen schlafen, und zwar traumlos.
Er schloß die Augen. Aber der Schlaf kam nicht. Dies war eine jener Reisen, wo er jede Minute spüren würde, jeden Huckel auf der Straße.
Warum also nicht noch einmal an den Zigeuner denken – an sein schmales, dunkles Gesicht, die blitzenden Zähne hinter den Lippen, so weiß und vollkommen, die Zähne des modernen Menschen. Ein reicher Zigeuner vielleicht. Eine reiche Hexe jedenfalls, das war ihm sofort klar gewesen. Im Geiste griff er nach dem Knopf ihrer weißen Bluse auf dem Foto. Er knöpfte sie auf, um ihre Brüste zu sehen. Er gab ihnen rosige Warzen, und er berührte die bläulichen Adern unter der Haut, die dort sein mußten. Er seufzte, stieß ein leises Pfeifen zw i schen seinen Zähnen hervor und drehte den Kopf zur Seite.
Das Verlangen war so schmerzhaft, daß er es zurückdrängen, loslassen mußte. Dann sah er den Zigeuner wieder vor sich. Er sah den langen dunklen Arm auf dem Kopfkissen. Wieder roch er den Geruch von Wald und Tal, der an dem Zigeuner hing. »Yuri«, wisperte er in seiner Fantasie, und er drehte den jungen Mann zur Seite und beugte sich über ihn, um ihn auf den Mund zu küssen.
Auch dies war ein glutheißer Ofen. Er richtete sich auf, beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Gesicht in die Hände.
»Musik, Ash«, sagte er leise; er lehnte sich wieder zurück, ließ den Kopf an die Scheibe sinken; und während er sich mit gr o ßen Augen bemühte, durch das dunkle Glas zu schauen, b e gann er mit dünner Stimme in leisem Falsett vor sich hin zu singen, ein Lied, das wohl niemand außer Samuel verstehen würde, und vielleicht würde nicht einmal Samuel sicher sein können, was es
Weitere Kostenlose Bücher