Die Mayfair-Hexen
bedeutete.
Es war zwei Uhr nachts, als er dem Fahrer befahl, anzuhalten. Er konnte nicht weiter. Hinter den dunklen Glasscheiben lauerte die Welt, die zu sehen er gekommen war. Er konnte nicht länger warten.
»Wir sind beinahe da, Sir.«
»Das weiß ich. Sie finden die Stadt in ein paar Meilen. Fahren Sie direkt dorthin. Ziehen Sie ins Gasthaus und warten Sie dort auf mich. Jetzt rufen Sie die Leibwächter im Wagen hinter uns an. Sagen Sie ihnen, sie sollen Ihnen folgen. Ich muß hier jetzt allein sein.«
Er wartete den unausweichlichen Widerspruch und Protest nicht ab.
Er stieg aus, schlug die Wagentür zu, bevor der Fahrer zu Hi l fe eilen konnte, und mit einem kurzen, gutwilligen Winken war er am Straßenrand und verschwand im tiefen, kalten Wald.
Der Wind hatte nachgelassen. Der Mond war in Wolken ve r fangen und gab nur hin und wieder ein verschleiertes Licht preis. Ringsherum spürte er den Geruch der Kiefern, und er fühlte die dunkle, kalte Erde unter seinen Füßen, die tapferen Halme des ersten Frühlingsgrases, die unter seinem Schuh zerdrückt wurden, den schwachen Duft der neuen Blumen.
Die Rinde der Bäume fühlte sich gut an, wenn seine Finger sie berührten.
Lange lief er so weiter und immer weiter; manchmal stolperte er, manchmal griff er haltsuchend an einen dicken Bau m stamm. Aber er blieb nicht stehen, um Atem zu schöpfen. Er kannte diesen Hang. Er kannte die Sterne über sich, auch wenn die Wolken versuchten, sie zu verhüllen.
Ja, der Sternenhimmel erweckte in ihm eine seltsame, schmerzhafte Empfindung. Erst auf einem hohen Kamm blieb er stehen. Seine langen Beine taten ein bißchen weh, wie sich das für Beine vielleicht gehörte. Aber an diesem heiligen Ort, diesem Ort, der ihm mehr bedeutete als jedes andere Stück Erde auf dieser Welt, konnte er sich erinnern, daß es eine Zeit gegeben hatte, wo ihm die Beine nicht geschmerzt hätten und er den Hang mit großen, federnden Schritten hätte hinaufla u fen können.
Egal. Was war schon ein bißchen Schmerz? Er gab ihm Einsicht in den Schmerz anderer. Und Menschen litten so schreckliche Schmerzen. Er brauchte nur an den Zigeuner zu denken, der in seinem warmen Bett schlief und von seiner Hexe träumte. Und Schmerz war Schmerz, ob körperlich oder geistig. Auch die weisesten unter den Männern und Frauen und Taltos würden niemals wissen, was schlimmer war – der Schmerz des Herzens oder der Schmerz des Fleisches.
Schließlich drehte er sich um und strebte noch höherem G e lände entgegen; stetig stieg er bergauf, selbst da, wo der Hang unbezwingbar steil erschien, und oft mußte er nach Ästen und festem Stein greifen, um sich hoch zu hangeln.
Wieder kam Wind auf, aber kein besonders starker. Seine Hände und Füße waren kalt, aber es war keine Kälte, die er nicht ertragen konnte. Tatsächlich hatte Kälte ihn immer e r frischt.
Und dank Remmick hatte er ja seinen Mantel mit dem Pelzkragen dabei; dank der eigenen Umsicht hatte er einen wa n nen Schurwollanzug an; dank dem Himmel – vielleicht – wurde der Schmerz in seinen Beinen nicht schlimmer, nur ein bi ß chen lästiger.
Der Boden war ein wenig bröckelig. Er hätte hier leicht fallen können, aber die Bäume waren wie ein großes Geländer, das ihm sicheren Halt gab und ihn schnell weiterführte.
Schließlich hatte er den Pfad gefunden, den er gesucht hatte; er schlängelte sich zwischen zwei sanft ansteigenden Hängen hinauf, wo die Bäume alt und unberührt waren, vielleicht seit Jahrhunderten von allen Eindringlingen verschont.
Der Pfad führte in eine kleine Senke hinab; überall lagen scharfe Steine, die ihm an den Füßen wehtaten und ihn mehr als einmal das Gleichgewicht verlieren ließen. Dann stieg er wieder bergauf.
Endlich gelangte er auf eine kleine Lichtung, von wo aus er zu dem fernen, überhängenden Gipfel spähte. Die Bäume sta n den so dicht beieinander, daß es schwierig wurde, den Pfad oder auch nur sicheren Untergrund zu finden. Er lief immer weiter und zertrat dabei niedriges Gestrüpp. Und als er sich jetzt nach rechts wandte, erblickte er tief unter sich, jenseits einer gewaltigen, tiefen Erdspalte, das Wasser des Sees, das im fahlen Licht des Mondes blinkte, und noch weiter entfernt ragten die hohen, skeletthaften Ruinen einer Kathedrale.
Es verschlug ihm den Atem. Er hatte nicht gewußt, daß sie soviel wieder aufgebaut hatten. Wenn er das Schemen dort unten fixierte, konnte er, so schien es wenigstens, die ganze kreuzförmige Anlage
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