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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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der Kirche erkennen, und daneben eine Vielzahl von gedrungenen Zelten und Gebäuden, und auch ein paar flackernde Lichter, nicht größer als Stecknadelköpfe. Er lehnte sich gegen den Felsen, schmiegte sich daran, lugte sozusagen hinunter auf diese Welt, ohne sich in die Gefahr zu begeben, zu kippen und ihr entgegenzustürzen.
    Er wußte, was das war: zu fallen und zu fallen, die Hände auszustrecken und zu schreien und den Fall nicht aufhalten zu können, derweil sein hilfloser Körper mit jedem Meter scharfkantigen Terrains unter ihm an Gewicht und Geschwindigkeit zunahm.
    Sein Mantel war zerrissen. Seine Schuhe waren naß vom Schnee.
    Einen Augenblick lang verschluckten ihn alle Gerüche dieses Landes, überwältigten ihn so sehr, daß er eine erotische Lust dabei empfand, sich in ihnen zu bewegen, eine Lust, die seine Lenden erfüllte und die rauhen Wellen der Wollust über seine Haut ergießen ließ.
    Er schloß die Augen und ließ den weichen, harmlosen Wind über sein Gesicht streichen, ließ ihn seine Finger gefrieren.
    Es ist nah, es ist ganz nah. Du brauchst nur weiterzugehen, bergauf, und dann vor dem grauen Felsen abbiegen, den du da unter dem nackten Mond erkennen kannst. Gleich werden die Wolken das Licht vielleicht wieder verhüllen, aber das wird es dir nicht schwerer machen.
    Ein ferner Klang berührte seine Ohren. Einen Augenblick lang dachte er, er habe es sich vielleicht nur eingebildet. Aber da war es – das leise Schlagen der Trommeln und das dünne, flache Wimmern der Flöten, ernst und ohne erkennbare Mel o die oder Rhythmus, was zuerst jähe Panik und dann eine le i se, pochende Unruhe in ihm erweckte. Die Klänge wurden stärker oder, besser gesagt, er ließ zu, daß er sie deutlicher hörte. Wind erhob sich und erstarb wieder; die Trommeln dröhnten jetzt kraftvoll von den Hängen dort unten herauf, die Flöten wimmerten weiter, wieder suchte er nach einem Muster in diesen Tönen, und als er keines fand, knirschte er mit den Zähnen und preßte die Handballen ans Ohr, um den Klang endgültig auszusperren.
    Die Höhle. Geh weiter. Geh hinauf und hinein. Wende den Trommeln den Rücken zu. Was bedeuten dir die Trommeln? Wenn sie wüßten, daß du hier bist, würden sie dann ein richtiges Lied spielen, um dich heranzulocken? Kennen sie die Li e der überhaupt noch?
    Er kämpfte sich weiter, und als er den Felsblock umrundete, berührte er die kalte Steinoberfläche mit beiden Händen. Fünf Schritte weiter, vielleicht etwas mehr, lag der Eingang der Hö h le, überwuchert und für jeden anderen Kletterer wahrscheinlich unsichtbar. Aber er kannte die planlosen Gesteinsformationen darüber. Er stieg höher, machte einen steilen, schweren Schritt nach dem anderen. Der Wind pfiff hier zwischen den Kiefern. Er drängte sich durch das dichte Unterholz, daß ihm die Zweige Hände und Gesicht zerkratzten. Es kümmerte ihn nicht. Schließlich trat er in die schwarze Finsternis. Schwer atmend ließ er sich an die Wand fallen und schloß wieder die Augen.
    Kein Laut kam aus der Tiefe zu ihm herauf. Nur der Wind sang wie vorher und übertönte barmherzig die fernen Trommeln, wenn sie tatsächlich noch immer ihr furchtbares, häßliches Getöse erschallen ließen.
    »Ich bin hier«, flüsterte er, und die Stille fuhr vor ihm zurück, verkroch sich vielleicht in den Tiefen der Höhle. Aber nichts gab ihm Antwort. Wagte er, ihren Namen zu sagen?
    Er machte einen scheuen Schritt, dann noch einen. Er bewegte sich weiter, beide Hände an die nahen Wände gelegt; sein Haar streifte die Höhlendecke, bis der Gang breiter wurde und das Echo seiner Schritte ihm verriet, daß die Decke über ihm zu neuen Höhen anstieg. Aber er sah nichts.
    Einen Moment lang rührte ihn die Angst an. Vielleicht war er die ganze Zeit mit geschlossenen Augen gegangen; er wußte es nicht. Vielleicht hatte er sich von Händen und Ohren leiten lassen. Und als er die Augen jetzt wieder öffnete, als er das Licht in sich hineinsaugen wollte, da war da nur Dunkelheit. Er wäre fast gefallen, solche Angst hatte er. Ein tiefgründiges Gefühl sagte ihm, daß er nicht allein war. Aber er weigerte sich, wegzulaufen, weigerte sich, hinauszuhasten wie ein ve r ängstigter Vogel, unbeholfen, gedemütigt, und sich in seiner Eile vielleicht sogar zu verletzen.
    Er hielt stand. Die Dunkelheit war vollständig. Das sanfte G e räusch seines Atems schien ins Endlose hinauszuwehen.
    »Ich bin hier«, flüsterte er. »Ich bin zurückgekommen.« Die

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