Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Doch die Entdeckung, dass sie mich für einen Schwindler hält, hat mich geschwächt. Und während meiner einsamen Tage nimmt auch mein Selbstvertrauen schweren Schaden.
Mittlerweile ist unsere Geschichte keine feurige Salsa mehr, sondern eine stachelige Seeigelsuppe.
10
ines Tages klopft ein komischer Kauz an die Tür der Geisterbahn und bewirbt sich als Spukgespenst. An diesem Tag verschlucke ich mich an der Seeigelsuppe.
Er ist groß, sehr groß. Sein Kopf scheint das Dach der Geisterbahn zu überragen, und das rechte Auge ist hinter einer schwarzen Klappe verborgen. Das linke Auge sucht das Extraordinarium ab wie ein Leuchtturm das Meer. Der Lichtkegel erfasst Miss Acacia und lässt sie nicht mehr los.
Die schreckliche Brigitte hat jede Hoffnung aufgegeben, dass ich ihre Kunden erschrecken könnte, und engagiert ihn vom Fleck weg. Mich setzt sie vor die Tür. Alles geht sehr schnell, viel zu schnell für mich. Ich werde Méliès fragen müssen, ob er mir in seiner Werkstatt Unterschlupf gewährt. Ich habe keine Ahnung, wo die kleine Sängerin und ich von nun an die kostbaren Stunden unserer Zweisamkeit verbringen sollen.
An diesem Abend tritt Miss Acacia in einem Theater in der Stadt auf. Wie immer schlüpfe ich nach dem ersten Lied in den Saal und setze mich in die letzte Reihe. Das neue Spukgespenst ist auch da – der Kerl so groß, dass er dem halben Saal die Sicht nimmt. Mir versperrt er ebenfalls den Blick auf die Bühne.
Dieses Auge, das Miss Acacia nicht loslässt, bringt mein Hemd zum Glühen. Den ganzen Abend ist sein Lichtkegel auf sie gerichtet. Ich will diesem wandelnden Suchscheinwerfer zurufen, er solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen, aber ich reiße mich zusammen. Mein Kuckuck kräht einen schiefen Moll-Akkord. Der ganze Saal dreht sich zu mir um und lacht. Ein paar Zuschauer fragen laut, wie ich diese merkwürdigen Geräusche erzeuge, dann ruft einer: »Dich kenne ich doch! Du bist der Kerl, der in der Geisterbahn alle zum Lachen bringt!«
»Gebracht hat. Seit gestern arbeite ich nicht mehr dort.«
»Ach so, pardon. Wie auch immer, dein Trick ist zum Totlachen.«
Plötzlich fühle ich mich auf den Schulhof zurückkatapultiert. Das Selbstvertrauen, das ich mir in Miss Acacias Armen erkämpft habe, ist dahin. Mein Ich zerfällt in seine Einzelteile.
Nach der Vorführung kann ich nicht anders, ich muss mit meiner Herzdame darüber reden. Sie winkt ab: »Der lange Lulatsch da? Pfff …«
»Er scheint völlig hypnotisiert von dir zu sein.«
»Du redest immer von Vertrauen, machst mir aber wegen eines Piraten mit Augenklappe eine Szene?«
» Dir mache ich keine Vorwürfe. Ich sehe ja, dass er es ist, der dich wie ein Hai umkreist.«
Ich bin verunsichert, weil ich Miss Acacia zwar vertraue, aber genau weiß, dass der Pirat alles daransetzen wird, sie mir wegzunehmen. Manche Blicke täuschen nicht, selbst wenn sie von einem Einäugigen stammen. Im Gegenteil, sie sind sogar doppelt so intensiv.
Im nächsten Moment bleibt mir die Seeigelsuppe im Hals stecken. Der einäugige Lulatsch kommt auf uns zu und sagt:
»Erkennt ihr mich nicht?«
Als er den Mund aufmacht, jagt mir ein eisiger Schauer die Wirbelsäule hinunter. Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut und hasse es wie kein anderes. Ich habe es seit der Schule nicht mehr gespürt.
»Joe! Was machst du denn hier?«, ruft Miss Acacia sichtlich verlegen.
»Ich habe eine lange Reise hinter mir, um euch beide zu finden, eine sehr lange Reise …«
Seine Aussprache ist schleppend. Abgesehen von der Augenklappe und ein paar zusätzlichen Barthaaren hat er sich nicht verändert. Seltsam, dass ich ihn nicht gleich erkannt habe. Es ist noch nicht ganz bis zu mir durchgedrungen, dass Joe tatsächlich in Granada ist. Um mir Mut zu machen, denke ich in einer Endlosschleife: ›Du hast hier nichts zu suchen, Joe, verschwinde wieder in deinem schottischen Nebel, du hast hier nichts zu suchen, Joe, verschwinde wieder …‹
»Kennt ihr euch?«, fragt Miss Acacia.
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir sind, wie soll ich sagen, alte Bekannte«, antwortet Joe grinsend.
Ich bin vor Hass wie versteinert. Ich würde ihm am liebsten auch noch das zweite Auge ausstechen, aber vor meiner kleinen Sängerin muss ich ruhig bleiben.
»Wir müssen reden«, sagt er und fixiert mich mit seinem einen Auge.
»Morgen Mittag, vor der Geisterbahn. Allein«, antworte ich.
»Gut. Und vergiss nicht, den Schlüssel mitzubringen.«
Morgen Abend
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