Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
Gelegenheit zum Einlenken zu geben, doch ich hörte kein einziges Wort von ihm. Schließlich, ich war schon fast an der Tür und dachte, alles wäre umsonst gewesen, kam es doch, das Wort.
    »Warte!«, sagte er.
     
    Zwischen dem Einlenken Gaspares und dem ersten Behandlungstag sollten noch zwei Monate ins Land gehen. Es bedurfte großer Hartnäckigkeit, mancher Träne und einer Engelsgeduld, bis es so weit war, dass ein kleiner, verkrüppelter, blinder Mann vor uns auf dem Stuhl saß. Er war durch Conors Vermittlung zu uns gekommen, hatte sich als »Fabio, der Dauerweiner«, vorgestellt und gleichzeitig verraten, dass die Jünger seiner Kunst sich
allacrimanti
nennen. Er war einer der hässlichsten Männer, die ich jemals gesehen hatte, und gleichzeitig einer der sympathischsten – immer dann, wenn sein schiefes Gesicht sich zu einem ansteckenden Lachen verzog. Zur Ausübung seiner Kunst, die ihm Erfüllung und Broterwerb zugleich war, musste er stets viel Wasser trinken. »Ohne Wasser keine Flüssigkeit, ohne Flüssigkeit keine Träne, ohne Träne kein Geschäft, Schwester«, erklärte er spitzbübisch grinsend. »Nur wenn die Tränen unablässig fließen, bemitleiden mich die Menschen und lassen ein paar Paoli springen.«
    Fabio war einer der vielen rechtlosen Bolognesi, die im Schatten der Reichen lebten. Einer, der zur Zunft der Bettler und Überlebenskünstler zählte, wertlos und unwichtig in den Augen der Obrigkeit, und vielleicht gerade deshalb hatte Gaspare ihn als »seinen« neuen Patienten akzeptiert.
    Welch großes Herz Fabio hatte und welch wichtige Rolle er dereinst in meinem Leben einnehmen würde, ahnte ich damals noch nicht. »Wie hast du deine Nase verloren?«, fragte ich ihn während der Vorbereitung zum Ersten Akt.
    Er wandte mir seinen Kopf mit den blinden Augen zu und antwortete: »Das ist eine Geschichte, die man besser nicht erzählt, Schwester. Wenn man wie ich aussieht, schaut man oft in die Abgründe der menschlichen Seele, und die Erfahrungen, die sich mit diesen Abgründen verbinden, schlagen nur allzu leicht aufs Gemüt. Ich kenne Euch noch nicht gut genug, um zu wissen, wie viel Ihr von der Wahrheit vertragt.«
    Statt meiner antwortete Gaspare: »Du verstehst dich auszudrücken, Fabio. So etwas lernt man nicht auf der Straße. Woher kommst du?«
    »Ihr habt es richtig gesagt, Dottore, ich bin ein Kind der Straße. Einunddreißig Jahre habe ich auf ihr verbracht, mit einer Unterbrechung von vier Jahren. In dieser Zeit schwitzte ich in einer Lateinschule, konjugierte und deklinierte und ritt meinen Cäsar und Ovid.«
    »Und warum bist du nicht auf der Lateinschule geblieben?«
    »Das ist eine Geschichte, die man besser nicht erzählt, Dottore. Wenn man wie ich aussieht, schaut man oft in die Abgründe der menschlichen Seele, und die Erfahrungen, die sich mit diesen Abgründen verbinden, schlagen nur allzu leicht aufs Gemüt. Ich kenne Euch noch nicht gut genug, um zu wissen, wie viel Ihr von der Wahrheit vertragt.«
    Diese Antwort kam Gaspare und mir bekannt vor. Sie sagte uns, dass Fabio noch nicht genug Vertrauen zu uns hatte, um mehr aus seinem Leben zu erzählen. Immerhin hatte er uns die Abfuhr mit einem so schelmisch-gewitzten Gesichtsausdruck erteilt, dass wir ihm nicht böse sein konnten.
    »Nun gut«, sagte ich, »Angst vor den kommenden Operationsschritten scheinst du jedenfalls nicht zu haben. Wie du siehst …«
    »Ich sehe nichts, Schwester.«
    »Oh, Verzeihung, ich vergaß … nun gut, du hast sicher gespürt, dass dein linker Oberarm mit Umschlägen aus Essig und Kräutern behandelt wurde, um die Blutung während des Ersten Akts zu verringern. Die notwendigen Instrumente liegen ausgebreitet auf einer Schale, und die Verbände wurden vorsorglich in Eiweiß, Rosenwasser, Drachenblut und Siegelerde getränkt. Normalerweise würde ich jetzt deine Augen verbinden, um dir den Anblick des Skalpells zu ersparen, aber das ist bei dir natürlich nicht nötig.«
    »Da habt Ihr recht, Schwester. Aber ganz blind bin ich nicht, denn vieles sehe ich mit den Ohren.«
    Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er meinte, und sagte dann: »Wenn du bereit bist, wird der Doktor jetzt den Hautlappen mit dem Skalpell herausarbeiten.«
    »Ist recht, Schwester. Ich habe keine Angst. Dottore, legt ruhig los.«
    Den Ersten Akt, so hatte ich es mit Gaspare abgesprochen, sollte noch er vornehmen, um von Anfang an keinen Zweifel bei Fabio aufkommen zu lassen, wer die einzelnen Schritte

Weitere Kostenlose Bücher