Die Medica von Bologna / Roman
Erlebnis mit dem Schultertuch hatte mich sehr verletzt. Ich hatte nur das Beste gewollt und war aufs Gröbste zurückgewiesen worden. Wenn ich es recht bedachte, hatte Gaspares Mutter das Tuch wahrscheinlich mit voller Absicht dort »verloren«, so dass ich es in jedem Fall entdecken musste. Ein klares Zeichen, dass sie mich und mein Geschenk verachtete.
Ich präparierte die Eingeweide der Viper heraus, betrachtete die Organe des Tiers und versuchte, sie zu erkennen und zuzuordnen.
Warum wies Signora Tagliacozzi mich so schroff ab? Ich hatte ihr nichts getan, im Gegenteil, ich war immer freundlich zu ihr gewesen, sogar ein Geschenk hatte ich ihr gemacht. War es die Angst aller Mütter, den Sohn an eine jüngere Frau zu verlieren? Ich konnte es mir nicht vorstellen, zumal Gaspare nicht ihr einziges Kind war. Er hatte noch einen Bruder, Francesco, und fünf Schwestern, von denen Giulia und Giovanna als Nonnen im Kloster San Bernardino e Marta lebten.
Ich legte die Geschlechtsorgane der Schlange frei und erkannte an dem Doppelpenis, dass es sich um ein männliches Exemplar handelte. Danach breitete ich sämtliche Sektionsteile vor mir aus, betrachtete die winzigen Organe, das weißliche Fleisch und das wirbelige Skelett und fragte mich, was von alledem den Theriak untauglich machte. Nichts davon sah krank oder abnorm aus. Ich war mir sicher, es mit einem gesunden Tier zu tun zu haben. Das Dogma, nach dem nur weibliche Tiere geeignet sein sollten, erschien mir willkürlich und überholt.
Ich merkte, dass ich mit meinen Überlegungen nicht weiterkam, und fragte mich, warum ich so vieles von dem anzweifelte, was von der Wissenschaft als absolute Erkenntnis gelehrt wurde. Warum war das so? Warum war überhaupt vieles so, wie es war?
Warum mochte Signora Tagliacozzi mich nicht?
Vielleicht würde ich den Grund niemals erfahren.
Ich beschloss, meine Lehrstunde zu beenden, und ging zu Bett.
Gaspare vermisste ich an diesem Abend nicht.
»Du hast eigenhändig eine Viper seziert?«, fragte Gaspare mich am nächsten Abend. Er lag nackt neben mir in Signora Tagliacozzis Bett und sah mich amüsiert an. »Warum?«
»Weil ich es können möchte.«
»Aber wozu?«
»Wozu geht die Sonne auf? Wozu legen Vögel Eier? Wozu weht der Wind? Es ist einfach so, dass ich es können möchte. Du wolltest es doch auch einmal lernen, und hast es getan. Genauso ergeht es mir.«
»Aber Bleiweißmädchen, sei doch nicht gleich so verstimmt. Ich wollte nur sagen, dass es für eine Frau recht untypisch ist, was du da gemacht hast.«
»Ich möchte nicht nur Vipern sezieren, ich möchte eine ganze Nasenrekonstruktion machen.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Ich möchte eine Nasenrekonstruktion mit allen sieben Akten machen, und du sollst mir dazu verhelfen.«
»Das geht nicht. Dieser Eingriff ist Ärzten vorbehalten, und du bist keine Ärztin.«
»Weil ihr Männer mich nicht studieren lasst.«
Gaspare seufzte. »Fängst du schon wieder an?« Dann begann er mir lang und breit zu erklären, warum Männer diese und Frauen jene Aufgaben im Leben hätten, dass es schon immer so gewesen sei, dass Gott es so wolle, der Papst, die Kirche und überhaupt.
Doch ich gab nicht nach. Ich sagte: »Du hast den Landvermesser Badoglio hier in deinem Haus privat behandelt, und ich habe dir geholfen. Warum können wir das nicht wiederholen?«
»Weil es etwas völlig anderes wäre, denn du würdest selbst das Skalpell führen und es nicht nur anreichen. Außerdem würde jedermann sofort erkennen, dass er von einer Frau behandelt wird, und ich käme in Teufels Küche.« Gaspare wollte das Thema beenden und mich an sich drücken, aber ich ließ es nicht zu und sagte: »Nein, nicht jedermann.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Ein Blinder würde mich nicht erkennen. Er würde denken, meine Hände wären deine.«
»Verzeih, aber der Gedanke ist lächerlich.«
»Es ist mir ernst. Ich will es unbedingt versuchen. Ich werde Conor, den Bettler, fragen, ob er einen blinden Kollegen mit einem
curtus
an der Nase kennt. Wenn ja, werde ich ihm sagen, dass der berühmte Doktor Tagliacozzi diesen Kollegen umsonst von seiner Verstümmelung heilen werde, zu Studienzwecken. Niemand wird auf diese Weise erfahren, dass in Wahrheit ich operiere.«
»Nein, das geht nicht.«
»Wie du willst.« Obwohl es mir schwerfiel, mich entschlossen zu zeigen, stand ich auf und begann, mich anzukleiden. Ich ließ mir absichtlich Zeit dabei, um Gaspare
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