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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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zurück. »Leider muss gesagt werden, dass die alles verderbende Seuche eine Verrohung der Menschen nach sich zieht. Ich habe erlebt, dass eine Mutter es ablehnte, sich an das Krankenbett ihres eigenen Kindes zu setzen, und ich habe gesehen, wie ein Mann seine Frau vor die Tür jagte, weil er annahm, sie sei befallen. Ich habe ohnmächtig dabeigestanden, als Bettler und Herumtreiber durch die Stadt strichen und Todgeweihte bestahlen. Wenn alles stirbt, verrohen die Sitten.«
    »Das glaube ich Euch.«
    »Nun, wie ist es: Wollt Ihr mich immer noch bei meinen Krankenbesuchen begleiten?«
    »Ja«, sagte ich, »das will ich.«
     
    Am nächsten Tag gingen der Doktor und ich los. Er hatte mir einen Lederanzug und eine Schnabelmaske besorgt. Die Maske saß sehr gut, den Anzug jedoch musste ich mir erst zurechtschneidern. Es war ein eigenartiges Gefühl, umhüllt von schwerem Leder durch die schmalen Gassen Venedigs zu streifen und nach Hilfsbedürftigen Ausschau zu halten. Beide trugen wir einen langen Stock, der, wie der Doktor mir erklärte, zweierlei Aufgaben erfüllte: Einmal diente er dazu, die oftmals wie tot daliegenden Kranken anzustoßen, um zu sehen, ob noch Leben in ihnen steckte, zum anderen war er eine Hilfe, allzu aufdringliche Kranke, die sich oftmals wie Trauben an den Arzt hängten, abzuwehren.
    Es war ein kalter Tag, Totengräber der Stadt liefen hin und her, hoben die Leichen auf Wagen und transportierten sie zum Kanal. Der Doktor kontrollierte jeden einzelnen der Verstorbenen, ob er auch wirklich tot war, und einmal gebot er den Männern Einhalt. »Dieser Mensch lebt noch«, sagte er mit dumpfer, von der Schnabelmaske verfälschter Stimme, »gebt ihm sauberes Wasser und fahrt ihn in mein Haus. Dort will ich mich später um ihn kümmern.«
    »Was habt Ihr mit dem Mann vor, Dottore?«, fragte ich, nachdem sein Befehl ausgeführt worden war.
    »Wenn es sein Gesundheitszustand erlaubt, werde ich die Pestbeulen öffnen und die Wunden versorgen. Alles andere liegt in Gottes Hand.«
    »Könnt Ihr nicht mehr für ihn tun? In der Dissertation des Johannes Pistorius steht unter anderem, dass der getrocknete Inhalt der Pestbeulen als Grundstoff für eine wirksame Arznei dienen kann.«
    »Davon halte ich nichts. Besser ist es, allen Eiter aus der Beule zu entfernen. Je mehr kranke Säfte den Körper verlassen, desto besser. Ich kenne die Dissertation des Pistorius. In ihr wird auch das mit Rosenblättern eingekochte Fruchtmark erwähnt, auf das ein gewisser Doktor Nostradamus schwört. Meines Erachtens aber ist Fruchtmark nur ein Erzeugnis für Naschkatzen, kein ernstzunehmendes Medikament.«
    »Und wie steht es mit der Signaturenlehre des Paracelsus, nach der die Natur durch bestimmte Zeichen in einer Beziehung zur therapeutischen Anwendung steht?«
    »Ihr meint die Auffassung, dass Pflanzen mit herzförmigen Blättern gegen Herzkrankheiten helfen, der Saft des Blutwurzes die Krankheiten des Blutes lindert, und die Walnuss, die im Aussehen dem menschlichen Gehirn gleicht, den Kopfschmerz nimmt?«
    »Genau, Dottore.«
    »Demnach würden Rote Bete, die in Form und Farbe an Bubonen erinnern, auch gegen die Pest helfen. Aber das ist nicht der Fall. Ein Irrglaube, wie meine Erfahrung mich lehrt. Rote Bete, dieses färbekräftige Gemüse, ist in gekochtem Zustand eine gesunde Kost, mehr nicht. Es bleibt also die betrübliche Erkenntnis, dass die Auswahl dessen, was wir Ärzte zur Heilung verordnen können, kümmerlich ist, Signorina. Ein bescheidener Erfolg liegt schon darin, die Ansteckungsgefahr zu mindern.«
    »Wie geht Ihr dabei vor, Dottore?«
    »Indem ich immer wieder darauf bestehe, dass die Krankenstube gehörig mit Weihrauch bedampft wird, und außerdem die Familie des Kranken dazu anhalte, sich regelmäßig Mund und Hände mit Essig oder Wein zu spülen. Wo wir gerade davon sprechen: In diesem Haus könnten sich noch Patienten befinden.«
    »Woran erkennt Ihr das?«
    »An dem weißen Kreidekreuz an der Tür. Es zeigt, dass dort schon gestorben wurde. Gleichzeitig warnt es andere Bewohner vor dem Betreten. Doch für uns gilt das nicht. Folgt mir.«
    Ich ging hinter ihm her, und tatsächlich fanden wir drinnen einen Vater mit seinem kleinen Jungen vor. Der Junge fieberte stark und klagte über starken Durst. Der Vater schien noch gesund zu sein.
    Der Doktor schlug die Decke zurück, besah sich kurz die rötlich schwarzen Pestbeulen, überprüfte dann die Zunge und die Augen, schüttelte unmerklich den Kopf und

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