Die Medica von Bologna / Roman
ich keinen einzigen Toten. An einer Ecke saß ein ungeschlachter Mann auf dem nackten Stein. Seine Unförmigkeit erinnerte an die eines Kloßes, was durch seinen kahlgeschorenen Kopf und den weißen Überwurf, den er trug, noch unterstrichen wurde.
Ich ging auf ihn zu, denn ich wollte sehen, ob er von der Seuche geschlagen war, aber er schien nur zu schlafen. »Geht es dir gut?«, fragte ich ihn.
Er schreckte auf und starrte mich an. Ich sah, dass er viel jünger war, als ich angenommen hatte, vielleicht zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre. Und ich sah, dass er entstellt war. Die Nasenspitze fehlte ihm.
»Wie kann es jemandem gehen, den es in diese Stadt verschlagen hat«, antwortete er mit heller, leicht quäkender Stimme. »Ich habe Hunger und Durst, Dottore.«
»Ich bin kein Arzt«, sagte ich.
»Warum tragt Ihr dann die Montur des Pestarztes?«
»Das soll dich nicht kümmern«, erwiderte ich schroffer als beabsichtigt.
»Ihr seid eine Frau, nicht wahr?«
»Das hast du richtig erkannt. Etwas zu essen habe ich nicht bei mir, wie du dir denken kannst. Kann ich sonst etwas für dich tun?«
Wieder schaute er mich an. »Ja«, sagte er langsam. »Ich wüsste da etwas.«
»Sag es mir.«
»Ich brauche eine Herrin.«
»Wie bitte?«
»Ich brauche eine Herrin, sagte ich. Nehmt mich als Euren Diener, Herrin, ich bin sicher, Ihr werdet gut zu mir sein. Genauso, wie ich gut zu Euch sein werde.«
»Bist du nicht ganz bei Sinnen?« Der Gedanke, ich könne die Herrin dieses fettleibigen Jünglings werden, erschien mir aberwitzig. Ich musste lachen.
»Seht Ihr, ich habe Euch zum Lachen gebracht. Ein guter Diener bringt seine Herrschaft zum Lachen. Nehmt Ihr mich nun?«
»Nein. Ich muss weiter.«
»Wartet, Herrin. Es ist mir ernst mit meinem Angebot.«
»Das mag sein.« Der Dicke wurde mir allmählich lästig. Wenn man von seiner Fettleibigkeit absah, war er offenbar völlig gesund. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. »Leb wohl.«
»Bitte, Herrin! Ihr habt ein gutes Herz, das spüre ich. Geht nicht weiter, und wenn Ihr schon weitergehen müsst, dann nehmt mich wenigstens mit. Ich möchte auf keinen Fall allein in der Pesthöhle Venedig bleiben und appelliere an Euer Mitleid.«
»Leb wohl.«
»Ich heiße Latif, was ›ein Geschöpf Allahs‹ bedeutet, und bin ein Eunuch aus dem Harem des Sultans Murad III . Vielleicht kennt Ihr Euch unter den osmanischen Sultanen nicht so gut aus, Herrin, aber die meisten sind grausam. Unter Selim II ., Murads Vorgänger, genannt ›der Trunkene‹, bin ich als Vierjähriger entmannt worden. Das war, wenn ich richtig rechne, im Christenjahr 1559. Durch eine Intrige wurde ich angeklagt und des Diebstahls für schuldig befunden. Wie die Strafe ausfiel, seht Ihr an meinem Gesicht. Danach konnte ich über das Meer fliehen, doch ein grausames Schicksal verschlug mich nach Venedig. Bitte helft mir, Herrin.«
Ich muss zugeben, seine lange Rede blieb nicht ohne Eindruck auf mich, doch dann sagte ich mir, dass sie allzu glattzüngig geklungen hatte und deshalb wahrscheinlich erfunden war. »Es geht nicht«, sagte ich. »Selbst wenn ich dich nehmen würde, ich könnte dich nicht bezahlen.«
»Herrin …«
Ich riss mich endgültig von ihm los und eilte in die nächste Gasse. Hier gab es kleine verlassene Werkstätten, in denen zu besseren Zeiten Töpfe und Pfannen gefertigt, Seifen gesiedet oder Wolle gewickelt worden waren. Eine Manufaktur stach mir besonders ins Auge. Es war ein Laden, in dem die unterschiedlichsten Masken für die Karnevalszeit hergestellt wurden. Mir fiel ein, dass die närrische Zeit demnächst wieder beginnen würde, aber an
carnevale
war in Venedig natürlich nicht zu denken. An der Fassade stand
La maschera,
und ich ging hinein.
Wie nicht anders zu vermuten, erwartete mich drinnen keine Menschenseele. Die Pest hatte auch hier ihre Opfer gefordert. Dafür sah ich umso mehr Masken. Es waren künstliche Gesichter jeglicher Art, in einer Vielfalt, wie ich sie nie zuvor erblickt hatte – darunter nicht nur die mir bekannte Schnabelmaske, die ich selber trug, auch Stabmasken, Halbmasken oder Bartmasken in allen Farben dieser Welt. Sie grinsten, lachten, weinten, schmollten oder drohten, aber eine von ihnen überstrahlte alle. Sie lag in einer Ecke und leuchtete mir von dort golden entgegen. Es war eine Venusmaske, benannt nach der Göttin der Liebe, des Verlangens und der Schönheit.
Staunend nahm ich sie in die Hand. Sie fühlte sich kühl und glatt an, keineswegs
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