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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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hinausgingen, wurde es schlimmer, denn die Totengräber waren mittlerweile selber tot, und die wenigen, die noch da waren, schafften ihre Arbeit nicht mehr. Die Fahrten zur Friedhofsinsel wurden eingestellt. Bald quollen die Straßen über vor Leichen, jedes Haus schien welche auszustoßen, und wer von den Bedauernswerten noch lebte, den sperrte man oft genug in den eigenen Mauern ein, wartete, bis er tot war, und verscharrte ihn dann unter den Dielen seiner Behausung.
    Aber nicht nur dort, auch am Wegrand, an Kreuzungen, an Uferbefestigungen – es gab keinen Platz, an dem nicht gestorben worden wäre, keinen Platz, an dem nicht Leichen lagen, die darauf warteten, begraben zu werden. Und war es endlich so weit, wurden sie sang- und klanglos in hastig ausgehobene Erdlöcher geworfen. Andere, und das waren die Glücklicheren, erhielten die Sterbesakramente und fanden in Massengräbern ihre letzte Ruhe.
    Der mehrfach zu benutzende Sarg, dessen herunterklappbare Bodenplatte es ermöglichte, den Toten einfach in die Grube fallen zu lassen, hatte längst ausgedient – es gab keine Sargträger mehr.
    Es war eine grausame Zeit. Zahllose Palazzi waren herrenlos geworden und luden förmlich zum Diebstahl ein, doch insgesamt wurde nur wenig entwendet. Jedermann, selbst die übelsten Langfinger, schien wie gelähmt in jenen Tagen.
    Trotz aller Bemühungen breitete die Seuche sich immer weiter aus, nicht zuletzt, weil niemand die verordneten Maßnahmen kontrollierte. Selbst die strenge Anweisung, nur sauberes Trinkwasser zu verwenden, wurde tagtäglich tausendfach missachtet, obwohl jedermann in der Bevölkerung wusste, dass bestimmte Brunnen, wie die beiden neben der Kirche Sant’Angelo Raffaele liegenden, extra zu diesem Zweck gegraben worden waren.
    Quacksalber und Scharlatane erlebten eine Blütezeit. Sie nutzten die Angst der Menschen schamlos aus, versprachen Heilung über Nacht und verkauften den Verzweifelten für teures Geld nutzlose Amulette und falsche Reliquien.
    Alles in allem war es die Apokalypse jeglichen Lebens in der einstigen
Serenissima,
denn nicht nur Menschen, auch Pferde, Hunde, Katzen, Hühner und Ratten starben. Ja, ich habe sogar Stimmen gehört, die ernsthaft behaupteten, Bäume seien von der Pest getötet worden.
    Dass ich selbst zu den Überlebenden zählte, ist für mich heute noch ein Wunder. Ebenso groß wie das Wunder, das der Allmächtige an Mirjam vollbrachte, jener jungen Frau, die wir am ersten Abend behandelt hatten. Sie gehörte zu den wenigen, die es schafften.
    »Warum hat sie überlebt, Maurizio?«, fragte ich den Doktor, denn wie selbstverständlich waren wir irgendwann zum Du übergegangen. Das Elend um uns herum hatte uns zusammengeschweißt.
    »Ihre Abwehrkräfte waren stärker als die Gier der Pest, eine andere Erklärung gibt es nicht. Außer, dass Gott sie noch nicht zu sich nehmen wollte. Es ist erstaunlich, wie rasch sie sich erholt, nachdem sie den Angriff der Seuche überstanden hat. Sie sagte mir, sie wolle bei uns bleiben und uns bei der Pflege der Kranken helfen, denn sie habe sonst niemanden mehr auf der Welt.«
    »Das ist eine gute Nachricht. Wir können jede Hilfe brauchen. «
    »Ja, Carla, das können wir.«
     
    Wie wertvoll Mirjams Hilfe war, sollte sich wenige Tage später erweisen, als Maurizio eines Morgens nicht aufstehen konnte, weil er einen Schwächeanfall hatte. Der tägliche Einsatz auf den Straßen, die stundenlangen nächtlichen Operationen, die hastig hinuntergeschlungenen Mahlzeiten, das alles war zu viel für ihn gewesen. »Bleib bei mir, Carla«, sagte er, nachdem ich ihn untersucht und gottlob keine Anzeichen der Seuche festgestellt hatte. »Für dich wäre es auch gut, einmal ausschlafen zu können. Außerdem möchte ich nicht, dass du allein auf die Straßen gehst.«
    »Würdest du an meiner Stelle hierbleiben?«
    »Carla, bitte.«
    Ich nahm seine Hand. »Du weißt, dass ich gehen muss. Mirjam wird nach dir sehen. Morgen oder übermorgen geht es dir besser, dann kannst du wieder draußen auf mich aufpassen.«
    »Carla, du bist unverbesserlich.«
    »Ja, das bin ich wohl.«
    Ich verließ ihn und brach auf. Ich hatte eine bestimmte Strecke, die ich jeden Tag abging, doch an diesem Tag nahm ich einen anderen Weg. Er führte mich durch Straßen, die ich noch nicht kannte, und durch Gassen, die eher Pfaden glichen, kaum breiter als die Schultern eines ausgewachsenen Mannes. Es war eine Gegend, die sich mir freundlich darstellte, denn ausnahmsweise sah

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