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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen für die Zukunft beendete ich das Schreiben und schickte es ab.
    Wer nach Venedig schrieb, hatte normalerweise innerhalb von sechs oder acht Tagen Antwort, aber von Maurizio hörte ich nichts. Weder in der Zeit bis zum Beginn des Sechsten Akts noch irgendwann danach. Ich sollte nie wieder ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Doch das wusste ich damals noch nicht und machte mir deshalb auch keine Gedanken.
    Nach zehn Tagen erlöste ich Latif von seiner Ungeduld und leitete den Sechsten Akt ein. Ich arbeitete die Nasenlöcher seines neuen Riechorgans heraus und nahm die Anheftung des
septums
vor. Mit der Bildung der neuen Nasenscheidewand war der operative Teil der Gesamtprozedur abgeschlossen. Ich steckte
tubuli
aus Holz in die Nasenlöcher und setzte ein formendes
tectorium
auf die neue Nase. Dann forderte ich ihn auf, ins Werkstattzimmer zu gehen und in
brutto nemico
zu sehen.
    »Ich bin sehr aufgeregt, Herrin!«, sagte er. »Bitte begleitet mich.«
    »Nein«, erwiderte ich. »Das musst du allein machen. Ich kann nicht in einen Spiegel sehen.«
    »Ach ja, ich glaube, das habt Ihr mir schon einmal erzählt. Mit Allahs Hilfe wird es auch so gehen.«
    Er stapfte mit schweren Schritten in den Nebenraum und blieb stehen. Unwillkürlich spitzte ich die Ohren, aber ich hörte nichts. »Du musst die
tubuli
und das
tectorium
abnehmen, sonst siehst du nichts«, rief ich hinüber, obwohl das eigentlich selbstverständlich war.
    Wieder nichts. Und dann ein Aufschrei. »Allah hat ein Wunder vollbracht! Ein Wunder! Ein Wunder! Ein Wunder …«
    Immer wieder rief Latif dieses eine Wort. Es war erst meine zweite eigene Rekonstruktion, aber sie schien perfekt gelungen.
    »Herrin!« Latif stürmte zurück ins Zimmer. »Verzeiht, wenn ich Euch eben vergessen habe. Natürlich habt auch Ihr ein Wunder vollbracht. Mit Allahs Hilfe, wenn ich das so sagen darf. Danke, ich danke Euch!«
    »Ich habe es gern getan, Latif. Zwei Jahre musst du noch nachts die Nasenformer tragen, dann wirst du im Gesicht wieder ganz der Alte sein.«
    »Allah, der Herr der Ka’aba, möge Euch ein langes Leben schenken, Herrin!«
    »Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist. Aber bedenke: Wo Licht ist, ist auch Schatten, wo ein Berg ist, ist ein Tal, und wo das Glück ist, ist auch Leid.«
    »Oh, Herrin, wie meint Ihr das?« Latif kullerte mit den Augen.
    »Ich sage es dir nicht gern, aber jetzt scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen: Du hast mich gefragt, ob die Aussicht besteht, irgendwann das Schilfrohr nicht mehr benutzen zu müssen, und die Antwort lautet nein. Es gibt für den Aufbau eines männlichen Glieds aus vorhandenem Gewebe keine Vergleichsbeispiele, was ein klarer Hinweis auf die Unmöglichkeit eines solchen Eingriffs ist. Ein Fünkchen Hoffnung besteht aber noch, denn ich habe an Doktor Sangio in Venedig geschrieben. Er ist nicht nur Pestarzt und Kräuterkundler, sondern auch ein kenntnisreicher Anatom. Vielleicht weiß er von einer solchen kühnen Operation.«
    Latif schloss die Augen. »Ja, Herrin, vielleicht.« Dann blickte er wieder auf und sagte: »Aber wir sind uns einig, dass es sehr, sehr unwahrscheinlich ist, nicht wahr?« Da ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Der Mensch sollte zufrieden sein mit dem, was er hat, und ich habe eine neue Nase. Außerdem soll man die Güte Allahs nicht allzu sehr auf die Probe stellen.«
    »Ja«, sagte ich, »das gilt auch für den Christengott.«
    Stillschweigend begruben wir das Thema für immer.
     
    Latif war sehr stolz auf seine neue Nase. Schon wenige Tage nachdem er sie in
brutto nemico
zum ersten Mal gesehen hatte, drängte es ihn, sie in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich bestärkte ihn darin und sagte: »Geh nur, die frische Luft wird dazu beitragen, dass die rekonstruierte Haut sich der anderen angleicht.« Außerdem war ich froh, allein mit Giancarlo zu sein. Man schrieb erst Anfang Juni, aber ich hatte schon mehrere Male in meinem Unterleib ein kräftiges Ziehen gespürt, das wellenförmig auftrat, und ich fragte mich, ob das bereits die Wehen waren. Um zu verhindern, dass mein Kleiner schon vor der Zeit die Geborgenheit meines Schoßes verließ, lag ich viel und schonte mich, wo es ging. Ich aß nur leichte, gut verdauliche Kost, las angenehme Lektüre, spielte auf der Gambe und dachte mir Melodien aus, von denen ich glaubte, dass sie Giancarlo gefielen.
    Und ich sprach mit ihm.
»Cocco mio«,
sagte ich, »lass dir ein wenig Zeit, es

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