Die Medica von Bologna / Roman
Herrin.«
»Wer ist ›wir‹? Und was hat das Haus mit einer Zuflucht zu tun?« Ich blinzelte, denn es wurde zusehends dunkler. Latif stieg vor mir eine knarrende Stiege in den Keller hinab. Plötzlich hörte ich ein lautes Krächzen direkt neben meinem Ohr. Ich schrak zusammen und wäre fast gefallen, aber Latif lachte. »Man scheint sich zu freuen, dass Ihr kommt, Herrin.«
Er stieß eine Tür auf, und ein schwach erleuchteter, saalähnlicher Raum tat sich vor mir auf. Mehrere Gestalten saßen an einem langen Tisch. Die unterschiedlichsten Gesichter waren darunter, verhärmte, blasse, gezeichnete, entstellte und hässliche, doch in einem glichen sich alle: in dem wachen Blick, mit dem sie mich musterten. Keines der Gesichter kam mir bekannt vor, außer einem.
»Willkommen im Königreich der Bettler«, sagte Conor. Massimo, der auf seiner Schulter saß, schlug mit den Flügeln und krächzte.
Ich muss ziemlich fassungslos, um nicht zu sagen, einfältig dreingeblickt haben, denn hier und da war ein Kichern zu hören. »Deine Nase sieht gut aus«, brachte ich schließlich hervor.
Conor grinste. »Sie ist damals gut verarztet worden. Es war eine gewisse Schwester Carla, die das gemacht hat. Ich bin ihr heute noch dankbar dafür.«
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Ich warte auf Euch, ebenso wie Massimo, der Euch schon ankündigte, und meine Freunde.«
Ich schaute mich um und entdeckte außer dem langen Tisch noch weitere Möbelstücke im Raum. An der hinteren Wand standen drei strohgepolsterte Bettgestelle, auf denen allerdings niemand lag, seitlich befand sich eine Kochstelle mit Zangen und Schürhaken, an der sich ein knochiger Alter zu schaffen machte, dahinter standen mehrere Vorratsfässer, ein Regal mit Töpfen, Schüsseln und Pfannen und rechter Hand ein dreibeiniges Kohlebecken, ein Kleiderständer, an dem ein paar zerschlissene Jacken und Hosen hingen, und ein stabiler, mit einem siebenarmigen Leuchter erhellter Beistelltisch.
An dem Beistelltisch blieb mein Blick hängen, denn auf ihm lag ein komplettes chirurgisches Besteck. Hinter dem Tisch befand sich eine zweite, kaum sichtbare Tür, die sich in diesem Augenblick öffnete.
Fabio, der Dauerweiner, trat ein. Nur weinte er nicht, sondern strahlte über das ganze Gesicht. »Es war meine Idee, Euch hierherzubitten, Schwester«, sagte er und setzte sich neben Conor. Seine Bewegungen waren dabei so sicher, als könne er sehen wie alle anderen.
»Nenn mich nicht ›Schwester‹«, bat ich, »sag lieber ›Signorina‹ oder ›Signorina Carla‹ zu mir.«
Fabio stutzte. »Wie Ihr wünscht, äh, Signorina Carla. Nun, bestimmt fragt Ihr Euch, warum Ihr hier seid und was das alles zu bedeuten hat, und natürlich sollt Ihr es erfahren. Aber bitte nehmt zunächst Platz. Das gilt auch für dich, Latif.«
Latif und ich setzten uns.
»Gestattet mir jetzt, Euch die Anwesenden vorzustellen. Neben mir sitzt Conor, den Ihr natürlich schon kennt. Er ist der Erste unserer Gemeinschaft, und wir nennen ihn König. Das wird Euch vielleicht erstaunen, aber Conor selbst erzählte Euch einst, dass wir Bettler einen König haben. Bis vor kurzem war es ein anderer, aber als dieser starb, wählten wir ihn. Er hat einerseits große Erfahrung in allen Arten der Bettelkunst – und ist andererseits jung und stark genug für diese wichtige Aufgabe.«
»So ist es«, sagte Conor mit ungewohntem Ernst. »Aber wir wollen nicht übertreiben. Ich bin ein Gleicher unter Gleichen. Außerdem gibt es mehrere Könige in Bologna. Mein Gebiet ist die Innenstadt, und die ist zum Betteln am besten.«
Fabio fuhr fort: »Der König bestimmt alle wesentlichen Dinge unseres Zusammenlebens, und er entscheidet auch, wer Zutritt zur Casa Rifugio haben darf. In Eurem Fall war er sofort einverstanden, Euch einzuladen, nicht wahr, Conor?«
»Genauso ist es.«
»Worum geht es eigentlich?«, fragte ich.
»Geduld, Signorina. Nehmt Ihr ein Glas Wein?«
»Danke, nein, es ist noch ziemlich früh am Tag. Aber vielleicht einen Becher Wasser.«
Fabio winkte, und das Gewünschte wurde vor mich hingestellt. Er selbst trank ebenfalls einen Schluck, und mir fiel ein, dass er immer reichlich Flüssigkeit zu sich nehmen musste, um seinen Beruf als
allacrimanto
ausüben zu können. Dann fuhr er fort: »Neben dem König gibt es den Rat der Bettler. Es war Conors ausdrücklicher Wunsch, ihn Euch der Reihe nach vorzustellen. Beginnen wir also. Da haben wir als Erstes Ludovico, den Schminker. Er versteht
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