Die Medica von Bologna / Roman
gesehen habe, vergesse ich nicht«, sagte ich fast entschuldigend zu ihm. Dann nannte ich ihm die Werke, die ich gelesen, aber deren Inhalt ich teilweise nicht verstanden hatte, weil mir das Hintergrundwissen fehlte. »Vesalius stellt sich gegen die Lehre der Kirche. Er scheint nicht an die Schöpfungsgeschichte zu glauben, denn er behauptet, der Mensch stamme vom Affen ab, andererseits führt er aus, dass es bei einem der
Vertebrae lumbales
des Affen einen Fortsatz gebe, der dem menschlichen Skelett fehle. Das widerspricht sich doch, oder?«, fragte ich ihn.
»Hm«, machte Marco.
»Weißt du, von welchem Lendenwirbelfortsatz bei Vesalius die Rede ist?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Aber wieso nicht? Ihr habt doch ständig anatomische Sektionen bei Professor Aranzio?«
»Nein, haben wir nicht.«
Ich wusste von Marco, dass die Leichen für Sektionen in früheren Zeiten von Personen stammen mussten, die mindestens dreißig Meilen außerhalb Bolognas gelebt hatten, und dass diese Bedingung 1561 aus Mangel an Toten gelockert worden war. Seitdem kamen auch Personen aus den Vororten in Frage, vorausgesetzt, es handelte sich nicht um ehrbare Bürger. »Habt ihr Studenten denn nicht mindestens eine Demonstration pro Monat im Haus eures Professors?«
»Doch, haben wir. Aber wir wissen trotzdem nicht alles. Wahrscheinlich, weil wir nicht so viele überflüssige Fragen stellen wie du.«
Ich schwieg und fragte mich, warum er so gereizt reagierte.
»Ich muss jetzt gehen.«
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein.« Er küsste mich flüchtig und verschwand.
Später fiel mir ein, dass er sicher auch gern über unsere Hochzeit gesprochen hätte, meine vielen Fragen ihn jedoch davon abgehalten hatten. Das tat mir leid. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass mein medizinisches Interesse im Augenblick viel größer war als der Wunsch, ihn zu heiraten. Ein Leben als Ehefrau und Mutter würde noch früh genug auf mich zukommen …
Kurz vor Weihnachten des Jahres 1572 geschah etwas, das mich bis ins Innerste bewegte. Es war an einem feuchtkalten Vormittag, als ich aus einem Fenster der Wäschekammer schaute und beobachtete, wie ein Kranker vorsichtig in den Hof des Klosters kutschiert wurde. Der Mann war über und über bandagiert und nahm eine Körperhaltung ein, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er saß aufrecht da, den Kopf erhoben, mit hochgebundenem, entblößtem linkem Arm. Der Arm war angewinkelt, die Innenfläche der Hand ruhte auf seinem Schädel. Am meisten aber beeindruckte mich, dass es eine Verbindung zwischen seinem Oberarm und seiner Nase gab. Ein Stück Hautlappen war es, das die Überbrückung herstellte. Es hing auf der einen Seite noch am Bizeps und überdeckte auf der anderen Seite den Nasenrücken.
Der Kranke wurde von dem Transportwagen heruntergehoben und auf einen Stuhl gesetzt. Ich sah, wie Schwester Marta einige Zeit mit dem Kutscher sprach, mehrmals nickte und ihn dann entließ. Doch das nahm ich nur aus dem Augenwinkel wahr, denn ich konnte den Blick nicht von dem seltsamen Verbindungslappen wenden. Er war ganz offensichtlich aus der Haut herausgeschnitten, und ich fragte mich, ob ein solches Abtrennen der Haut auch an anderen Körperstellen möglich wäre, vielleicht im Gesicht …
Ich mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, aus Angst, er könne zu kühn sein, stattdessen verließ ich eilig die Wäschekammer und ging hinüber in den Krankensaal, wo Schwester Marta und der Kranke inzwischen eingetroffen waren. Ich fragte Marta beiläufig: »Kann ich dir helfen?«
»Nanu, Carla, bist du schon fertig mit dem Zusammenlegen der Leinenwäsche?«
»So gut wie«, sagte ich und hoffte, der Herrgott möge mir die kleine Lüge verzeihen.
»Dann könntest du mir tatsächlich helfen. Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich nicht weiß, was ich als Erstes anpacken soll.«
»Was soll ich machen?«
»Kümmere dich um den neuen Patienten.« Marta senkte die Stimme, um die anderen Kranken nicht zu stören. »Der Mann ist Bettler und hat einen
curtus,
eine Verstümmelung der Nase.«
»Eine Verstümmelung? Ich wusste gar nicht, dass man so etwas operieren kann?«
»Doch, es geht offenbar. Allerdings soll die Rekonstruktion langwierig und schmerzhaft sein, weshalb viele Verstümmelte lieber entstellt herumlaufen, als die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Ich nehme an, dieser Bettler hat Geld bekommen, damit er seine Einwilligung gab. Professor Aranzio, der die
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