Die Medica von Bologna / Roman
Sommer werden.«
»Ach, das wollen wir aber nicht hoffen, nicht wahr, Carla?«
»Nein«, sagte ich, »das wollen wir nicht.«
Marco hielt sein Versprechen und überließ mir in den nächsten Monaten seine Aufzeichnungen. Es waren rasch hingekritzelte Sätze, Stichwörter oder Zahlen, mitunter auch kleine Skizzen, die allesamt einen erheblichen Mangel aufwiesen: Ich wurde nicht recht schlau aus ihnen. Meine Versuche, den Inhalt besser zu verstehen, wurden auch nicht erfolgreicher, als ich mir die Mühe machte, die Unterlagen Wort für Wort abzuschreiben. Sie ergaben einfach keinen zusammenhängenden Sinn. »Marco«, sagte ich eines Abends, als er mich besuchte, zu ihm, »ich verstehe das nicht. Die menschliche Hand hat doch sicher viel mehr Muskeln, als aus deinen Stichworten hervorgeht, und zu den Handwurzelknochen hast du nur einen seltsamen Merkvers geschrieben:
Ein
Kahn,
der fährt im
Mond
enschein,
im
Dreieck
um das
Erbsenbein,
Vieleck groß, Vieleck klein,
der
Kopf,
der muss beim
Haken
sein …
Was hat das mit der Hand zu tun? Um die ganze Hand und ihre Funktion zu verstehen, muss ich viel mehr wissen. Was ist mit den Sehnen, was mit den Nerven? Oder hier: Du schreibst von Euklid und Ptolemäus, davon, dass beide das System des Ausflusses aus dem Auge durchdacht und als wahre und letzte Ursache des Sehens erkannt hätten, sozusagen als Grund für die bildliche Wahrnehmung – das begreife ich nicht, dazu muss es doch mehr Erkenntnisse geben? Oder hier, deine Randbemerkungen über den Wundschmerz: Du schreibst, er hat seine Ursache in fremden Dingen, die in der Wunde hängen und sie irritieren, außerdem, wenn sich scharfe Sachen darin befinden, Vitriol oder andere korrosivische Medikamente zum Blutstillen. Das ist ja alles schön und gut, aber es gibt doch sicher viele weitere Ursachen für Wundschmerzen. Warum hast du die nicht festgehalten?«
Marco zog die Schultern hoch. »Man kann nicht alles aufzeichnen. Hast du schon einmal versucht mitzuschreiben, wenn einer vor dir zügig Sachverhalte oder Zusammenhänge erklärt? Ehe du einen Gedanken niedergeschrieben hast, hat er schon zwei weitere geäußert. Das ist nicht leicht, glaub mir. Hinzu kommt, dass beileibe nicht alles in einer einzigen Lehrstunde behandelt wird.«
»Das kann ich mir denken. Aber gibt es nicht so etwas wie ein Protokoll?«
»Das gibt es schon – manchmal.«
»Wieso nur manchmal?«
»Carla, Carla, du stellst viele Fragen. Es ist ganz einfach so, dass ich nicht immer zu jeder Vorlesung gehen kann. Als Student hast du viele Verpflichtungen, die Feiern, die Feste, die Umzüge, das alles ist mindestens genauso wichtig wie das eigentliche Studium.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das leuchtet mir nicht ein. Wer feiert, kann nicht lernen, und wenn ich dich recht verstehe, ist es ungeheuer viel, was ein
Studiosus medicinae
wissen muss. Es wird mit jedem Jahr mehr, das hast du selbst gesagt, weil die Wissenschaft mit ihren Erkenntnissen so rasch voranschreitet.«
Marco machte eine unwillige Geste. »Jedenfalls kann ich dir keine besseren Notizen geben, ich selbst habe auch keine anderen.«
»Gibt es denn keine Bücher, in denen man die Dinge nachlesen kann?«
»Die gibt es, aber sie sind teuer.«
»Hast du sie? Wenn ja, könntest du sie mir vielleicht leihen?«
Marco stand auf. »Nein, das kann ich nicht, ich leihe mir die neuesten Bücher auch von meinen Kommilitonen aus.«
Ich erhob mich ebenfalls. »Aber du hast doch dein Erbe, da könntest du dir doch die wichtigste Literatur kaufen?«
»Ich habe noch andere Verpflichtungen. Das Studentenleben ist nicht gerade billig. Wenn man anerkannt sein will, muss man eben mit den Wölfen heulen.
Chi pecora si fa, il lupo lo mangia,
wie es heißt. Ich muss jetzt gehen.« Er küsste mich. »Sag es ruhig, wenn du keinen Wert mehr auf meine Notizen legst.«
»Doch, doch, das tue ich«, antwortete ich schnell, aus Angst, ich könnte ihn mit meiner Ablehnung verletzen. Auch dachte ich, dass sein flüchtig Hingeschriebenes immer noch besser war als gar nichts.
»Nun gut, dann gehe ich jetzt.«
»Pass auf dich auf. Und grüße deine Mutter.«
Die Tage gingen ins Land. Morgen für Morgen machte ich mich zu den Nonnen von San Lorenzo auf den Weg, um dort meinen Dienst zu verrichten, und Abend für Abend beschäftigte ich mich mit Marcos Aufzeichnungen, die nach wie vor flüchtig, lückenhaft und wenig hilfreich waren. Je weniger sie mich weiterbrachten, desto mehr verspürte ich
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