Die Medica von Bologna / Roman
den Wunsch, die Medizin von Grund auf und mit all ihren Blickwinkeln kennenzulernen.
Ich ertappte mich dabei, dass ich zunächst manchmal, dann immer häufiger auf dem Weg nach Hause den kleinen Umweg über das Archiginnasio machte, einfach, um die Atmosphäre des Lernens, des Wissens und des Forschens unmittelbarer zu spüren. Ich beobachtete durch meinen Schleier, wie die bunt gekleideten Studenten, häufig in Begleitung ihrer würdigen Professoren, lachend, schwatzend und gestikulierend durch den Haupteingang des Universitätsgebäudes in den Innenhof strebten, und verspürte den großen Wunsch, mich unter sie zu mischen, um der Quelle allen Wissens näher zu sein. Doch natürlich hielt ich mich zurück. Mit meinem Schleier wäre ich spätestens im Innenhof als Frau erkannt worden. Außerdem hatte ich ohnehin schon Sorge genug, dass Marco mich irgendwann entdecken würde.
Sosehr ich bedauerte, dem Inneren des Archiginnasios fernbleiben zu müssen, so sehr wunderte ich mich über eine Veränderung, die in mir vorging.
Ich stellte fest, dass ich mich von Tag zu Tag sicherer in der Öffentlichkeit bewegte. Ich schaute nicht mehr ständig nach unten, um den Blickkontakt mit anderen Menschen zu vermeiden, sondern sah ihnen mitunter sogar direkt ins Gesicht – wenn auch durch den schützenden Schleier meines Baretts. Die Gewissheit, sehen zu können, ohne selbst gesehen zu werden, machte mir Mut. Ich musterte die Entgegenkommenden und staunte über die Einzigartigkeit des menschlichen Gesichts.
Die Unvollkommenheit, die ich dabei oftmals sah, machte es mir leichter, mit meinem eigenen Makel zu leben.
Und ich begann, eitel zu werden. Ich schneiderte mir neue Kleider, die nicht mehr so grau und nicht mehr so brav waren, denn ich war zu einer Erkenntnis gekommen: Um nicht aufzufallen, durfte ich mich nicht von der Masse unterscheiden; ich musste ebenso bunte, farbenprächtige Gewänder tragen wie andere Frauen. Ich ging ins Werkstattzimmer und nahm die Stoffballen, die noch von meiner Mutter stammten, in Augenschein. Ich beschloss, mir eine neue Zimarra und ein neues Kleid zu nähen. Für das Kleid wählte ich herrlichen burgunderfarbenen Damast und für das dazugehörige Unterkleid eierschalenfarbenen Seidendamast. Beide Stoffe waren so wertvoll, dass sie bestimmt noch von einer der ehemaligen Patrizier-Gattinnen stammten. Doch ich hatte keine Scheu, diese Stoffe zu nehmen. Nächtelang nähte ich an diesem Kleid, das ich »mein Nibelungenkleid« nannte, und verzierte es kurz vor der Fertigstellung mit einer doppelten Glasperlenstickerei an der Ausschnittkante und mit lilienförmigen Ärmelagraffen auf beiden Seiten.
Für die Zimarra fiel mir ein warmer, mit einem Seidenfaden verwobener Wollstoff aus Florenz in die Hände, der von piniengrüner Farbe war. Ich nähte ihn nach den Maßen meiner alten Zimarra, deren fliederfarbenen Stoff ich für das Kapuzen- und das Innenfutter verwendete. Auch die modisch-tiefen Falten im Rückenteil und an den Ärmeln legte ich in Flieder an. Als vorderen Verschluss nahm ich eine alte Silberfibel, die ich für eine Weile in eine Salzlösung legte und anschließend polierte, bis sie wieder wie neu erstrahlte.
Ich war sehr zufrieden mit meiner neuen Ausstattung und bedauerte nur, dass ich mich nicht im Spiegel betrachten konnte.
Zum Schluss fiel mir noch eine Elle von breitlaufendem Atlas in die Hände, deren frisches, kräftiges Rosa mir ins Auge sprang. Das Rosa passte vorzüglich zu dem Piniengrün der Zimarra und dem tiefen Burgunderrot des Kleids. Doch was konnte ich daraus fertigen? Eine Elle war nicht viel und reichte allenfalls für ein kleineres Kleidungsstück. Nach einiger Überlegung entschied ich mich für ein neues Barett. Es sollte kleiner werden als das alte schwarze und eine rundumlaufende dunkelblau abgesetzte Krempe haben. Und dazu einen kürzeren Schleier. Was bedeutete, dass mehr von meinem Gesicht zu sehen sein würde.
Da das neue Barett kleiner war als das alte, änderte ich meine Frisur. Ich steckte mir die Haare hoch, gab ihnen Halt mit dem ererbten Haarnetz meiner Mutter und krönte das Ganze mit der neuen, gewagteren Kopfbedeckung, deren Sitz ich mit einer beinernen Hutnadel gegen Sturm und Wind sicherte. Gern hätte ich eine silberne Hutnadel genommen, aber mir fehlte das Geld, um eine zu kaufen.
Auch hätte ich gern modische Schuhe zu meinen neuen Kleidern getragen, denn ich kam mir unvollkommen vor, aber Marco, der mir welche hätte anfertigen
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