Die Medica von Bologna / Roman
Ich ging weiter und weiter, und irgendwann merkte ich, dass ich wieder an meinem Ausgangspunkt angelangt war. Man konnte auf dem Dachboden um das gesamte Gebäude herumlaufen. Vorsichtig forschte ich weiter, doch alles, was ich sah, waren Staub und Holzbalken zu meinen Füßen und Staub und Dachgebälk über mir.
Und dann hörte ich wieder Stimmen ganz in meiner Nähe. Ich fragte mich, von wo sie an mein Ohr drangen, doch schon waren sie wieder verstummt.
Ich wartete eine Weile. Gerade als ich zu der Überzeugung gekommen war, meine Fantasie hätte mir einen Streich gespielt, setzten sie wieder ein. Ich lauschte angestrengt. Es waren murmelnde Stimmen. Männerstimmen. Mehrere. Vielleicht drei oder vier. Nein, eher mehr.
Aber woher kamen sie?
Und dann wusste ich es. Die Stimmen kamen aus dem unteren Stockwerk. Ich blickte auf meine Füße und entdeckte einen länglichen Spalt in der Deckenkassette. Abermals lauschte ich. Kein Zweifel, die Stimmen drangen durch den Spalt zu mir herauf.
Ich ließ mich auf die Knie nieder und beugte mich über den Schlitz. Je näher meine Augen der Öffnung kamen, desto größer wurde das Bild, das unter mir entstand: Es handelte sich um einen kleinen, mit zahlreichen Fackeln erhellten Raum, in dessen Mitte ein Tisch stand. Der Tisch war aus Marmor, und auf ihm lag ein Körper. Der blutige Körper eines Mannes.
Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Was ging da unten vor? Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf. War ich soeben Zeugin eines Hexensabbats geworden, einer Leichenschändung, einer Teufelsaustreibung? Nein, daran wollte ich nicht glauben. Ich war nicht wie meine Mutter, die hinter allem und jedem irgendwelchen Geisterspuk vermutete. Ich war Carla. Und ich befand mich im Archiginnasio. Bestimmt ging es da unten um wissenschaftliche Forschung. Wieder beugte ich mich über den Spalt, und diesmal wich ich nicht zurück.
Ich erkannte, dass der Mann auf dem Tisch tot war und dass ein Dutzend junger Studenten um ihn herumstand. Ein glatzköpfiger Mann, der eine blutbefleckte Schürze trug, schnitt mit einem Skalpell Teile aus dem Leib des Toten und hielt sie hoch, während ein respekteinflößender Herr mit klangvoller Stimme erklärte: »Was wir hier sehen, liebe
Studiosi,
ist das Herz, im Lateinischen
cor
genannt. Es ist jenes faustgroße Organ, das durch seine Muskelkraft wie eine Pumpe wirkt. Bitte betrachtet es sehr genau. Diejenigen unter Euch, denen die Pflanzenwelt nicht ganz fremd ist, werden feststellen, dass es in seiner Form der Zirbelnuss, dem Zapfen der Zirbelkiefer, gleichkommt …«
Langsam dämmerte es mir, dass ich direkt in den kleinen Anatomie-Raum, der
Scuola d’Aranzio
genannt wurde, hinabsah.
Der Glatzköpfige mit dem Skalpell, von dem ich annahm, dass es der Prosektor war, der im Namen von Professor Aranzio die Sektion durchführte, tauchte das Herz in einen Wassereimer und spülte es sauber. Dann legte er das Organ fast achtlos auf einem kleinen blankgescheuerten Holzbock ab. Die Studenten traten in einer Reihe davor an, und jeder nahm es in die Hand, betrachtete es von allen Seiten, legte es dann wieder zurück und begab sich auf seinen Platz.
Professor Aranzio, ein Mann um die vierzig, mit ergrauendem Haar und energischen, eigenwilligen Gesichtszügen, führte währenddessen aus: »Auch wenn manche meiner geschätzten Forscherkollegen meine Ansicht nicht teilen, so darf dennoch als sicher gelten, dass der Herzmuskel jene Antriebskraft darstellt, die dafür Sorge trägt, dass der Strom des Blutes im menschlichen Körper immerfort fließt. Das Herz ist der wichtigste Muskel überhaupt, ohne ihn würde kein Knochen sich bewegen, keine Sehne sich spannen, kein Band sich biegen. Angetrieben von dieser Pumpe aus Fleisch, rinnt das Blut durch den gesamten Körper, und irgendwann, nach geheimnisvollen, labyrinthischen Wegen, gelangt es wieder zum Herzen zurück, um von dort erneut seine Reise anzutreten. Das Blut, liebe
Studiosi,
ist der Saft der Säfte, auf ihn kommt es an, sein Kreislauf ist der Strom des Lebens, was übrigens der berühmte Anatom Andreas Vesalius schon vor mehr als einer Generation wusste.«
Aranzio machte eine Pause und nickte dann einem ernst dreinblickenden jüngeren Mann zu, von dem ich zunächst dachte, es handele sich um einen Studenten, doch seine Worte, die er mit fester, angenehm klarer Stimme vortrug, wiesen ihn sofort als einen der Lehrenden aus: »Ja, liebe
Studiosi
«, sagte er, »Professor Aranzio spricht vom
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