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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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können, mochte ich nicht fragen.
    Meinen Umweg über das Archiginnasio gab ich dennoch nicht auf. Im Gegenteil, immer häufiger strich ich in meinen neuen Kleidern um das ehrwürdige Gebäude herum und kam mir manches Mal fast wie eine streunende Katze vor. Doch ich wollte hinein. Ich wollte um alles in der Welt hinein – und durfte es nicht.
    Marco, mein Verlobter, der studieren konnte, schien sich nicht viel aus diesem Vorrecht zu machen. Und mir, die sich danach sehnte, war es verwehrt.
    Verkehrte, ungerechte Welt.
     
    An einem grauen, windigen Tag, es war Ende März, kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich entdeckte an der Ostseite des Archiginnasios, rückwärtig zur Kapelle Santa Maria de’ Bulgari, eine schmale Tür, die ins Innere des Gebäudes führte. Sie war aus verwittertem Holz und kaum zu sehen, denn dichtes Buschwerk überwucherte sie.
    Sollte ich es wagen? Ich blickte mich um. In der kleinen Seitengasse, der Viuzza da Ginnasio, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Das beruhigte mich. Ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte die rostige Klinke nach unten. Die Tür war nicht verschlossen. Ich machte einen Schritt ins Unbekannte – und blieb stehen. Ich rang mit mir. Atmete tief durch, machte wieder einen Schritt. Und gab auf. Es ging nicht. Ich musste umkehren.
    Ich schlich nach Hause, wo die üblichen abendlichen Verrichtungen auf mich warteten. Ich legte meine Tageskleidung ab, ging in die Küche, fachte das Feuer an, kochte Reis, schnitt gewässertes Trockenobst hinein, sprach ein Tischgebet, aß die Mahlzeit, ohne etwas zu schmecken, spülte Teller und Löffel, schlug anschließend ein Buch auf, las darin, ohne den Sinn zu begreifen – und dachte über alledem an nichts anderes als an die kleine, verwitterte Tür, die ins Innere des Archiginnasios führte.
    Am nächsten Tag stand ich wieder davor, blickte mich nach allen Seiten um und stellte fest, dass niemand mich beobachtete und dass sie noch immer unverschlossen war.
    Und lief davon.
    Zweimal noch erging es mir so, bis ich mich endlich hineintraute. Da ich Sorge hatte, die offen stehende Tür könnte mich verraten, schloss ich sie vorsichtig hinter mir. Sofort umfing mich völlige Dunkelheit. Ich tastete mich vorwärts und fiel fast vornüber, denn mein rechter Fuß war gegen etwas Hartes gestoßen. Ich unterdrückte einen Schrei. Das Hindernis stellte sich als die unterste Stufe einer Treppe heraus. Ich raffte meine Röcke und stieg sie langsam empor. Hier und da knarrte es verräterisch, und jedes Mal verharrte ich mit klopfendem Herzen. Aber nichts geschah. Niemand kam. Niemand schien sich in diesem Teil des Gebäudes aufzuhalten.
    Die Treppe, überlegte ich, mochte ein vergessener Aufgang sein. Aber ein Aufgang wohin? Der Richtung nach musste er nach innen, zur oberen, rundum laufenden Hofloggia des Archiginnasios führen. Die Hofloggia war eine bauliche Besonderheit, von der Marco mir das erste Mal berichtet hatte, als er von der jährlichen Herstellung des Theriaks schwärmte.
    Ich tastete mich weiter die Treppe hinauf und stellte fest, dass die oberste Stufe in einen Durchgang mündete, an dessen Ende Licht schimmerte.
    Und dann hörte ich Stimmen.
    Sollte ich fliehen?
    Nein, ich hatte mich nicht so weit vorgewagt, um jetzt umzukehren. Aber wenn ich entdeckt wurde? Schon wollte ich den Rückzug antreten, da sah ich zu meiner Rechten eine Leiter, deren Ende hoch über mir an den Rand einer quadratischen Deckenöffnung gelehnt war. Eine der Kassetten aus Tannenholz war wohl zur Reparatur herausgenommen worden.
    Unschlüssig biss ich mir auf die Lippe. Es wäre ein Leichtes, sagte ich mir, den Rückweg anzutreten und rasch nach Hause zu laufen. Doch ich blieb. Ich erklomm die Leiter und gelangte mit dem Verlassen der letzten Sprosse auf den Dachboden. Ich atmete tief durch und blickte mich um. Über mir sah ich nur noch einen flachen, hölzernen Giebel, durch dessen Ritzen fahles Licht fiel. Unter mir verliefen quadratische Balken, auf denen fingerdick der Staub lag. Ich ging ein paar Schritte in die eine Richtung, blieb stehen und kehrte wieder um. Dann ging ich ein paar Schritte in die andere Richtung und kehrte abermals um.
    Was will ich hier oben eigentlich?, fragte ich mich und konnte mir keine Antwort geben außer der, dass ich dem Archiginnasio nahe sein wollte, so nahe wie all die jungen Männer, die täglich dort ein und aus gingen, um zu studieren.
    Erneut machte ich mich auf den Weg, und diesmal blieb ich nicht stehen.

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