Die Meister der Am'churi (German Edition)
leise, in der Hoffnung, das Problem jetzt sofort besprechen zu können. Er machte sich Vorwürfe, dass er es so lange hinausgezögert hatte, doch das war sinnlos. Von der stillen Gestalt dort im Bett kam keine Reaktion, nicht einmal Atemzüge waren zu hören. Nun, dann eben morgen früh , dachte Jivvin, aber sonst keinen Aufschub mehr . Sie mussten fortgehen. Der Winter endete. So wie alles.
~*~
Ni’yo stand auf, sobald er sicher war, dass sein Liebster fest schlief, und schlich sich aus der Hütte. Er konnte keinen Schlaf mehr finden, seine Schulterverletzung und das, was er von Jivvins Gespräch mit der Bäuerin belauscht hatte, hielten ihn wach. Der Schmerz störte ihn dabei noch nicht einmal so sehr, aber der Juckreiz und das Pochen in der heilenden Wunde waren im Liegen schwer zu ertragen. Um Jivvin nicht zu stören, wollte er den Rest der Nacht hier draußen verbringen. Die Dunkelheit unter den Bäumen umhüllte ihn wie eine wärmende Decke. Schon immer hatte er es geliebt, nachts in den Wäldern zu wandern, auch wenn er während seiner Zeit im Tempel nur sehr selten Gelegenheit dazu gefunden hatte. Er konnte in der Finsternis gut sehen, ein Erbe seiner elfischen Mutter. Die Schatten lockten ihn, dieses Erbe anzunehmen, Am’churs Wege zu verlassen und ein Kind Kaleshs zu werden. Es wäre möglich, das wusste er, doch ihn verbanden nichts als Zorn und Bitternis mit den Elfen.
Er hörte ein Knacken in der Ferne, Rascheln von Ästen: Etwas oder jemand kam auf ihn zu. Ob es einer der Dörfler war? Nein, er spürte, dass es kein Mensch sein konnte. Ni’yo stand still, wartete geduldig mit der Hand am Chi’a. Er hatte nicht das Gefühl bedroht zu sein, was sich bestätigte, als er einen riesigen Schatten zwischen den Baumstämmen entdeckte, silbernes Fell aufblitzen sah und das Knurren eines großen Wolfes hörte.
„Lynea?“ Die Frage erübrigte sich eigentlich, wer sonst als seine Schwester würde von den Kindern Murias zu ihm kommen?
Das prächtige Tier, jeder Zoll des schlanken, kraftvollen Körpers eine tödliche Waffe, kam dicht zu ihm heran. Lynea war eine Wolfswandlerin, eine Erwählte der Muria. Sie war größer als gewöhnliche Wölfe, stärker und weitaus bedrohlicher. Die göttliche Schwester des Am’chur hatte sie schon sehr früh zu sich genommen, um das kaum fünfjährige Mädchen zu schützen, nachdem ihre und Ni’yos Mutter im Kampf gegen Schattenelfen umgekommen war.
Silbernes Haar flutete über Lyneas nackte Schultern, als sie sich zur Frau wandelte; sie umarmte ihn, nahm dabei aber Rücksicht auf seine Verletzung, die sie in ihrer Wolfsgestalt gewittert haben musste.
„Warst du es, die mich heute gerufen hatte?“, fragte er, als sie sich von ihm löste und anmutig auf einem umgestürzten Baumstamm niedersetzte.
„Ja. Ich wollte wissen, ob du daheim bist, also habe ich meine Suchergabe eingesetzt. Verzeih, ich habe dich in einem schlechten Moment erwischt. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass du meine Berührung spüren könntest.“ Ni’yo winkte mit einem Lächeln ab. Er hatte von der Gabe einiger Wolfswandler gehört, eine anvisierte Beute oder ein Rudelmitglied mental aufspüren zu können, sollten sie einmal die Spur verloren haben. Ein kostbares Geschenk der Göttin, die ähnlich wie Am’chur sehr großzügig gegenüber ihren Erwählten war.
„Ich vermute, du bist nicht gekommen, um einfach mal nach mir zu sehen?“, fragte Ni’yo nach einigen Augenblicken friedlichen Schweigens. Er spürte die Nähe weiterer Wölfe. Zweifellos Lyneas Rudel. Für einen Herzschlag lang beneidete er sie darum, dass sie ihr Leben als Teil einer Gemeinschaft führen durfte. Sie war unberührt geblieben von dem unheilvollen Erbe der Elfen, dem Schatten, der so lange über ihm gelegen hatte und alle Menschen mit Hass und Angst erfüllte.
„Leider nein.“ Sie zog an seinen Armen, bis er sich vor sie auf den Boden kauerte. „Lass mich deine Wunde sehen, ich kann dir helfen.“
„Sie ist bedeutungslos, mit Am’churs Gabe wird sie rasch heilen. Sie behindert mich nicht wirklich.“
„Lass mich trotzdem nachsehen. Du wirst deine Kräfte brauchen.“
Ni’yo öffnete die Verschnürung seines Hemdes, ließ zu, dass sie den Verband zur Seite schob und die Wunde von vorn und hinten begutachtete. Lynea war der einzige Mensch, abgesehen von Jivvin, dem er gestattete, ihn zu berühren – und das, obwohl er seine Schwester in den vergangenen zwanzig Jahren kaum je zu Gesicht
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