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Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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weder David noch ihr gleich aufgefallen war, weil sie in einer kleinen Nische stand. Einem Impuls folgend, ging Henrika zu der Truhe hinüber und öffnete sie. Ihr Gesicht wurde kreidebleich, als ein schnarrendes Geräusch ertönte. Henrika wich zurück; stöhnend schlug sie die Hand vor den Mund. «Allmächtiger!», war alles, was sie herausbrachte.
    David starrte Henrika verwirrt an, doch er war sogleich bei ihr und legte seinen Arm um ihre Schulter, weil er befürchtete, sie könnte auf der Stelle ohnmächtig zusammenbrechen.
    «Diese Truhe …», stammelte Henrika weinend. «Es ist Barthels Truhe. Ich erkenne sie wieder. Sie stand zunächst in seinem Kabinett, später ließ er sie in das kleine Brückenhaus schaffen, wo er … Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glaubst. Auf dem Deckel findest du seine Initialen tief ins Holz geschnitzt.»
    David wartete geduldig, bis Henrika sich wieder etwas gefangen hatte, dann kam er ihrer Aufforderung nach und sah sich die Truhe genauer an.
    «Du wirst mich für verrückt halten, aber als ich die Truhe wiedererkannte, wurde ich an die furchtbarste Nacht meines Lebens erinnert», sagte Henrika. «Verstehst du, was ich meine?»
    David strich Henrika sanft das Haar aus dem Gesicht, und seine Finger kühlten ihre erhitzten Wangen, bevor sie sich auf weitere Erkundungswege begaben. Sie erforschten Henrikas linkes Ohr, zeichneten mit der schwungvollen Bewegung eines Künstlers die feinen Linien ihrer Lippen nach und berührten zärtlich ihr Kinn. Dabei sagte David nicht ein einziges Wort, als befürchtete er, den Zauberbann zu brechen, der urplötzlich über ihnen schwebte.
    Henrikas Herz klopfte, nein, es zersprang beinahe, als sie bemerkte, wie nah sie David gekommen war. Sie begann nun ihrerseits, David entgegenzukommen. Sie umfasste seine Hüften und hob langsam den Kopf, um seinem Mund die Suche nach ihren Lippen zu erleichtern. Was sie empfand, war unbeschreiblich. Tiefe Dunkelheit hüllte sie ein, aber diesmal war es keine Dunkelheit, die sie ängstigte, sondern ein Gefühl von Geborgenheit und höchster Wonne. Bis zu dieser Stunde hatte sie in David nur Laurenz’ Bruder gesehen, einen gewissenhaften, aber undurchsichtigen Mann, der außer seiner Arbeit nichts zu haben schien, für das sich sein Leben lohnte. Doch nun, während sie sich an ihn schmiegte, begriff sie, dass sie sich in ihm ebenso getäuscht hatte wie in Laurenz. Auch David war fähig, Leidenschaft zu empfinden, auch wenn er sein Herz nicht auf der Zunge trug.
    Seine Liebkosungen waren ungewohnt. Als er sie am Ohr kitzelte, traten ihr Tränen in die Augen.
    «Warum weinst du?», wollte er flüsternd wissen. «Ist es die Erinnerung an deinen Vormund, die dich traurig macht?»
    Sie schüttelte den Kopf, suchte nach Worten, die ihm klarmachen sollten, dass der Moment, den sie miteinander teilten, in Kürze nur eine Erinnerung sein würde.
    Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr sich mit einer hastigen Bewegung durch das Haar. Ich darf ihn nicht ansehen, dachte sie. Niemals wieder kann ich ihm in die Augen sehen. Der Traum war vorüber, so schnell wie er gekommen war, und die kalte Wirklichkeit hatte sie eingeholt. In dieser Wirklichkeit gab es keinen Platz für David, dessen Bruder ein übles Spiel mit ihr trieb. David konnte das nicht verstehen, und sie würde ihn niemals überzeugen können. Auch wenn er sich noch so oft mit Laurenz prügelte, er blieb auf ewig sein Bruder. Und Henrika wusste, wie sehr er an ihm hing. Nicht einmal von ihrem Verdacht gegen ihn hatte er hören wollen. Sollte sie ihm da noch erzählen, wie Laurenz sie erst vor wenigen Stunden bedroht hatte? Dass er sie zur Heirat zwingen wollte?
    Nein, das war unmöglich. Es gab Entscheidungen, die Menschen einsam machten. Henrika blieb nichts anderes übrig, als ihre zu treffen. Sie würde David schaden, wenn sie ihn zum Verbündeten gegen Laurenz’ und Annas Ränke machte. Es war besser für ihn, wenn sie ihm fortan aus dem Weg ging. Keinesfalls durfte sie von ihm verlangen, dass er sich gegen seinen eigenen Bruder stellte.
     

17. Kapitel
    Meister Carolus beschloss, noch einige Tage in Frankfurt zu bleiben, damit sich Barbara erholen konnte. Während dieser Zeit ließ er das Mädchen nur aus den Augen, wenn ihn dringende Geschäfte riefen. Die Nachricht vom gewaltsamen Ende ihres vermeintlichen Peinigers hatte er schweigend, aber doch beruhigt zur Kenntnis genommen. Er war davon überzeugt, dass der Mann im Zustand der

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