Die Meisterin der schwarzen Kunst
er schon.» Van Sneek deutete auf einen hochaufgeschossenen Mann, der mit Hilfe zweier Knechte einen in dunkles Leintuch gehüllten Gegenstand über den Platz trug. Den Männern stand der Schweiß auf der Stirn, so sehr plagten sie sich ab, aber keiner der Dorfbewohner kam ihnen zu Hilfe. Im Gegenteil, die Menge wich vor dem Büttel und seiner Last zurück, als fürchtete sie, sich mit einer Seuche anzustecken. Manche bekreuzigten sich sogar oder berührten das mit Blumen geschmückte Heiligenbild, das den Schutzpatron der Dorfkirche darstellte.
Henrika beobachtete mit wachsender Aufregung, wie das unförmige Gebilde auf eines der Wiegebretter geschoben wurde. Es zählte nicht weniger als sieben Fuß. Ein Stöhnen rann durch die Reihen der Menschen, als schließlich das Leintuch von dem Gegenstand gezogen wurde.
Die sogenannte dulle Griet war ein Schnitzbild aus Holz, das eine weibliche Person mit hagerem Leib, wildem Haar und plumpen Gliedmaßen darstellte. Der Künstler hatte sich keine Mühe gegeben, seiner Figur überzeugende Proportionen zu verleihen, denn sowohl Arme als auch Beine wirkten grotesk verformt. Das aufgedunsene Gesicht des Standbildes wirkte dagegen auf furchterregende Weise lebendig. Bösartig dreinblickende Augen signalisierten Kampfbereitschaft und Grausamkeit. Die Nase war dick und zu den Lippen hin leicht gebogen; der Mund war geöffnet, als versuchte die Figur etwas zu sagen. Insgesamt ließ der Gesichtsausdruck des hölzernen Weibes auf beginnenden Wahnsinn schließen.
Die Frau, die als Erste gewogen werden sollte, war eine weißhaarige Bäuerin, die sich nur mühsam aufrecht hielt. Gestützt von einem Mädchen, trat sie an die Waage und erbleichte, als sie den Kopf hob, um dem starren Blick der dulle Griet zu begegnen. Zitternd vor Angst, griff sie nach einem der vier gespannten Seile, an denen das Brett befestigt war, und zog sich an ihm hinauf, was mehrere Male misslang. Ein Knecht des Büttels musste schließlich behilflich sein, damit die Frau auf die Waage gestellt werden konnte.
«Das ist Gertrud, eine Rechenmacherin aus Averbode», sagte van Sneek, der dem Spektakel fasziniert zusah. «Sie wohnt nahe der Abtei und geriet schon voriges Jahr in den Verdacht, zu den Bluttöchtern gehört zu haben, nachdem man bei einer Durchsuchung ihrer Kammer eine Pulverflasche und zwei Dolche entdeckt hatte. Sie schwört Stein und Bein, dass die Dinge ihrem verstorbenen Mann gehörten und sie selbst nie eine Waffe in die Hand genommen hat. Die Mönche der Abtei haben sie hierhergebracht.»
«Und ihr glaubt, die Wahrheit herauszufinden, indem ihr die alte Frau vor den Augen des ganzen Dorfes gegen das Gewicht dieser hässlichen Holzfigur aufwiegt?», fragte Henrika trotzig. Sie hatte lauter gesprochen, als sie vorgehabt hatte, aber der Anblick der schlotternden Frau, die versuchte, auf dem wackeligen Wiegebrett Halt zu finden, löste Unmut in ihr aus.
«Glaubt mir, es ist durchaus zu ihrem Besten», sagte van Sneek betont ruhig. «Falls sie mehr oder weniger wiegt als die Figur, ist die Krämerin von dem Verdacht befreit, eine Teufelsanbeterin und Bluttochter zu sein. Sie bekommt eine Urkunde ausgestellt und ist künftig vor allen Nachstellungen sicher.»
«Und wenn sie und dieses komische Holzstück einander die Waage halten?»
Der Alte zuckte die Schultern. «Der große Rat von Mechelen hat kein Interesse an Teufelspakt und Hexenwerk, denn er möchte nicht an die unseligen Zeit erinnert werden, in der die dulle Griet und ihre Anhängerinnen kreischend durch die Lande zogen und Unruhe stifteten. Dafür nimmt die Inquisition in Brüssel die Berichte aus den Provinzen sehr ernst. Insbesondere dieser Tage, da die Verhandlungen wegen eines Waffenstillstands zwischen Spanien und unseren rebellischen Verwandten im Norden kurz vor einem Abschluss stehen. Jeder, gleichgültig ob Frau oder Mann, der in diesen Tagen als Ketzer oder Teufelsknecht entlarvt wird, muss an die Spanier ausgeliefert und nach Brüssel gebracht werden. So fordert es das Gesetz.»
«Ich sehe gleich weiße Mäuse tanzen», knurrte David, wofür er sich einen weniger feurigen als vielmehr vorwurfsvollen Blick der Magd Greetje gefallen lassen musste. Das Mädchen stand inmitten seiner Freundinnen vor ihnen, drehte sich aber von Zeit zu Zeit um, um Henrika aus den Augenwinkeln zu beobachten.
Henrika wollte etwas erwidern, als der Wägmeister das erlösende Zeichen gab. Mit einem Schluchzen faltete die Rechenmacherin die Hände.
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