Die Meisterin der schwarzen Kunst
Gewissheit, dass er nicht sterben würde, solange sie nur seine Hand nicht losließ. Bewegungslos verharrte sie, bis sich ihre Lippen wie von selbst öffneten. Dann hörte sie einen leisen Gesang, doch es dauerte eine Ewigkeit, bis sie begriff, dass die Töne aus ihrem eigenen Mund kamen. Die Melodie war dieselbe, die sie als Kind gekannt, jedoch verloren geglaubt hatte. Plötzlich fielen ihr auch die Verse wieder ein. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, dass Henrika sie endlich wieder zitierte.
Sie sang weiter, gönnte sich keine Pause und wiegte dabei ihren Körper hin und her, bis die Zeit nicht mehr als ein Raunen und die kalte Halle nur noch ein Meer von gelbem Licht war, das sie einhüllte. Sie fühlte sich dabei auf eigenartige Weise geborgen, als liefe sie bei Sonnenschein durch ein Weizenfeld. Der Steinboden büßte seine Kälte ein; unter Henrikas Füßen wurde er weich wie frisches Moos. Während sie das Lied von neuem anstimmte, beendete die Finsternis ihre Herrschaft über die Nacht und wich einer zarten Morgenröte, die den Himmel hinter den Bäumen des Zollhofes mit roter Farbe überzog.
Das Zwitschern der Vögel verkündete einen neuen Tag.
Als Henrika ihre Augen öffnete, war sie so erschöpft, dass sie ihre Glieder kaum bewegen konnte. War sie eingeschlafen, während sie neben Barthel gewacht hatte? Nein, unmöglich. Sie hatte doch alles ganz deutlich vor sich gesehen. Als sie ihre Hand von der warmen Brust des Baumeisters nahm, bemerkte sie, dass er die Augen geöffnet hatte. Er blickte sie an, ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund.
«Du hast mir … das Leben gerettet. Aber wie? Ich verstehe das nicht.»
Er sprach leise, doch seine Stimme klang kräftig. Henrika schüttelte bekümmert den Kopf. «Ich hasse und verachte mich dafür, dass ich auf meinen Vetter geschossen habe. Aber …»
«Du wolltest verhindern, dass er mir den Hals umdreht.» Er lachte und wurde sogleich mit einem trockenen Hustenreiz dafür bestraft. «Das meine ich nicht. Was du getan hast, um mich zurückzuholen. Ich wusste, dass du es kannst.» Er winkelte vorsichtig die Beine an und warf einen prüfenden Blick auf seine zerschundenen Füße. Sie waren blutverkrustet, doch als Barthel sie bewegte, verzog er nicht einmal das Gesicht. Verblüfft betrachtete Henrika den Hals des Mannes, aber so genau sie ihn auch untersuchte, sie fand kein Würgemal.
Ich kann sie gesund machen , hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrem Innern. Es war die Stimme eines verängstigten Kindes, aber sie klang hoffnungsvoll.
Ich kann sie gesund machen.
Barthel Janson blieb noch einen Augenblick lang ruhig auf dem Rücken liegen, dann richtete er sich langsam auf. «Ist er tot?», krächzte er mit einem Seitenblick auf den reglosen Lutz.
Henrika zuckte die Achseln. Die Kraft, die während der letzten Stunde durch sie geflossen war, ließ sich mit Worten nicht beschreiben. Sie vermutete, dass der heilende, längst vergessen geglaubte Strom nicht nur Barthel, sondern auch Lutz vor dem Tod bewahrt hatte.
«Hilf mir hinauf in meine Kammer, ich möchte mich waschen und ankleiden. Bevor die Abordnung aus Heidelberg kommt, sollte ich vielleicht ein wenig ruhen. Ich fühle mich ein wenig schwach auf den Beinen.»
«Ein wenig ruhen?» Henrika hob die Arme. «Ihr könnt heute niemanden mehr empfangen. Dankt lieber Gott, dass Ihr noch am Leben seid.»
«Also schön, ich werde ihm danken, sobald die Gesandten des Kurfürsten meine Skizzen begutachtet haben. Falls überhaupt noch etwas von ihnen übrig geblieben ist.»
Henrika starrte den Baumeister an. Sein Eifer für die Festungsanlage grenzte an Besessenheit. Wie konnte er schon wieder an seine Skizzen denken?
«Du brauchst übrigens keine Angst zu haben, wenn du Geräusche aus dem Keller hörst», erklärte Barthel knapp. «Ich habe mir euren Schultheiß und seinen Großknecht geschnappt und sie zu den Fässern mit eingelegtem Hering gesperrt. Daraufhin hat sich der Pöbel verzogen. Leider scheinen nicht alle von ihnen verstanden zu haben, wie ernst es mir war, sonst hätte dieser verrückte Kerl es gewiss nicht gewagt, in mein Haus einzudringen und über dich herzufallen.»
Er meinte Lutz, der noch immer auf dem Boden lag und keinen Laut von sich gab. Henrika musste ihm helfen, das war sie Elisabeth schuldig. Ihr graute zwar bei der Vorstellung, wie die Frau, die sie fast ihr ganzes Leben lang wie eine Verwandte behandelt hatte, reagieren würde. Aber schließlich hatte Henrika
Weitere Kostenlose Bücher