Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
Vom Netzwerk:
Umhang über die Schultern und brach zu Spaziergängen auf. Niemals verriet sie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber, wohin sie ging und was sie unternahm, wenn sie stundenlang ausblieb. Die Dienerschaft stellte keine Fragen, und Barthel zuckte lediglich mit den Achseln und erklärte, dass Anna schon immer sehr eigenwillig gewesen sei. Sie lebe zwar unter seinem Dach, was ihn in gewisser Weise für sie verantwortlich mache, doch solange Anna sich nichts zuschulden kommen ließe, kümmerten ihn ihre Ausflüge nicht.
    Für Henrikas Wissensdurst und ihre plötzlich erwachte Liebe zu Büchern hatte Anna nur Spott übrig. Sie selbst verfügte über die Bildung eines Edelfräuleins, das im Schloss aufgewachsen war; sie ritt mit geradem Rücken und meisterte an Barthels Tafel die schwierigste Konversation. Sogar ein paar Worte Französisch und Niederländisch sprach sie.
    Eines Nachmittags machte sich Henrika mit einem Buch auf den Weg zum Kirchhof, um dem Lärm des Gesindes und dem mürrischen Gesicht der Köchin wenigstens für einige Stunden zu entfliehen. Es war ein heißer Tag, und die drückende Schwüle ließ erahnen, dass mit einem Gewitter zu rechnen war.
    Henrika suchte sich einen Platz, von dem aus sie das Geschehen auf der Straße beobachten konnte. Sie sah, wie ein paar Zimmergesellen miteinander wetteiferten, wer am schnellsten das Gerüst vor einem der neuen Häuser erklomm. Ihnen gegenüber hatte ein Kaufmann ein schattiges Gewölbe bezogen; seine Knechte schleppten Ballen um Ballen schweren Tuches die schmalen Stufen hinab. Henrika beneidete die jungen Männer nicht und war froh, dass sie ihre Pflichten in der Zollschreiberei für heute bereits erfüllt hatte. Die erst wenige Wochen zuvor gewählten Ratsherren konnten es offenbar gar nicht erwarten, dass ihre Stadt aufblühte. Bürgermeister Litter ritt beinahe täglich durch die neuen Siedlungen, um die Handwerker anzutreiben. Die Brennöfen der Ziegelei, die jenseits der Rheinpforte rauchten, konnten den Bedarf an Steinen nur noch mit Mühe decken. Die Knechte des Ziegelmeisters plagten sich von früh bis spät in der prallen Sonne, während in den Steinbrüchen der Umgebung manchmal bis spät in die Nacht hinein tonnenschwere Brocken aus den Felswänden herausgebrochen, zu Blöcken zurechtgeschnitten und dann mit Ochsengespannen zum Fluss hinabbefördert wurden. Der kleine Hafen am Rhein, in dem am Tag der Grundsteinlegung das Boot des Kurfürsten gelandet war, hatte sich bereits zu Beginn des Sommers in einen Umschlagplatz für Güter und Waren verwandelt. Werkzeuge, Bauholz, Quadersteine und Fässer mit Pökelfleisch, Salz, Essig und dünnem Bier zur Verpflegung der Garnison, aber auch Pelze, Garne, Tuch und Leder wurden auf dem Wasserweg in die neue Stadtsiedlung geschafft.
    Aus Heidelberg war ein Arzt gekommen, der in seinem Haus nicht nur gebrochene Beine schiente und Wunden wusch, sondern sich auch auf die Behandlung innerer Krankheiten verstand. Sein Ziel war die Eröffnung einer Apotheke, was zwar den heftigen Widerstand des alten Dorfbaders heraufbeschwor, von Barthel aber, der selbst Interesse an der Heilkunst hatte, befürwortet wurde.
    Henrika beobachtete eine Weile, was sich am Rheinufer tat. Die Fährleute hatten alle Hände voll zu tun, um Karren und Soldaten von einem Ufer zum anderen zu befördern, und schwitzten unter der stechenden Sonne aus allen Poren. Während die Pferde der Männer die Barkassen schwimmend begleiteten, lenkten die Fährleute sie mit Hilfe langer Stangen geschickt an der Sandbank vorbei, die sich inmitten des Rheins aus dem Wasser erhob. Die winzige Insel war auf Barthels Vorschlag hin mit einer Mauer und einem schindelgedeckten Türmchen versehen worden, das etwa tausend Fuß hoch war und einem Wächter als Ausguck über Stadtsiedlung, Festungsanlage und das weite Binnenland diente. An der erweiterten Anlegestelle schaukelte ein Langboot.
    Schließlich betrat Henrika den Kirchhof und ließ sich auf einer Bank nieder. Träge schlug sie die erste Seite ihres Buches auf, verspürte aber plötzlich keine Lust mehr zu lesen. Stattdessen beobachtete sie, wie drei Männer die Kirche verließen. Sie schienen nicht aus der Gegend zu stammen. Der älteste war ungefähr dreißig Jahre alt und so beleibt, dass er beim Gehen schwankte, als bewege er sich über das Deck eines Schiffes. Sein Gesicht leuchtete feuerrot und glänzte vor Schweiß. Sein eng anliegendes Wams aus kupferrotem Tuch schien ihm auf der Haut zu kleben.

Weitere Kostenlose Bücher