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Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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an ihrem Kopf vorbei. Sie konnte den Lufthauch spüren und hörte, wie er klatschend im Fluss versank. Sie schrie entsetzt auf und spuckte, als das aufspritzende eisige Wasser ihr Gesicht benetzte. Dann hörte sie wie durch einen Nebel Bunter, der laut fluchte. Der Druck auf ihrem Körper ließ ein wenig nach. Weitere Steine schlugen rechts und links von ihr in den Schnee oder fielen ins Wasser. Oben, an der Uferböschung, stand eine schwarz vermummte Gestalt und stemmte mit beiden Händen einen großen Stein in die Höhe. Schwungvoll schlug der Brocken neben Bunter auf.
    Bunter rollte sich mit einem ärgerlichen Knurren zur Seite und sprang auf die Füße. Lauernd starrte er in die Nacht, begriff aber nicht, woher der Stein gekommen war. Das nächste Geschoss traf ihn mit Wucht am Kopf. Ein markerschütternder Schrei durchbrach die Stille der Winternacht.
    «Aufhören, du Teufel», brüllte Bunter. Seine Stimme überschlug sich vor Angst und Wut. Blutiger Speichel rann aus seinem Mund. Er taumelte durch den Schnee.
    Henrika kroch auf allen vieren rückwärts, um sich in Sicherheit zu bringen, denn sie fürchtete, dass die Steine des schattenhaften Angreifers auch sie treffen könnten. Doch ihre Furcht erwies sich als unbegründet. Wer auch immer dort oben stand, er schien nicht vorzuhaben, sie absichtlich zu verletzen. Seine Wut galt einzig und allein dem Schuhmacher.
    Er wurde vor ihren Augen gesteinigt.
    Der Mann schrie erneut auf. Er reckte den blutverschmierten Hals und bemühte sich mit letzter Kraft, auf die Beine zu kommen und ins eisige Wasser zu springen, um sich unter den hervorragenden Brettern des alten Stegs in Sicherheit zu bringen. Doch es war zwecklos. Die Gestalt auf der Anhöhe schleuderte Stein um Stein auf ihn, bis er schließlich zusammenbrach und sich nicht mehr rührte.
    Endlose Momente verstrichen, bevor Henrika begriff, was gerade geschehen war. Aus Furcht vor weiteren Steinen wagte sie nicht, sich vom Fleck zu rühren. Doch es wurden keine mehr geworfen. Sie beobachtete, wie ihr Retter mit wehenden Gewändern die Böschung hinunterstieg, und bemerkte zu ihrer Verblüffung, dass dieser kein Mann, sondern eine Frau war. Eine ältere Frau, deren Haar unter der Last der Jahre grau geworden war. Der Wind, der die Schneeflocken herumwirbelte, bauschte ihre unförmigen schwarzen Witwenkleider wie das Segel eines Schiffes auf. Als sie die Faust öffnete, den letzten Stein prüfend in der Hand auf und ab springen ließ und ihn schließlich in den schwarzen Fluss warf, versteifte sich ihr magerer Körper.
    «Mein Gott», entwich es Henrika.
    «Ein Mann, der eine Jungfrau auf freiem Feld packt und sich zu ihr legt, ist ein Gräuel in den Augen des Herrn», zitierte die Frau Ehrfurcht gebietend. «Er hat sein Leben verwirkt und soll von der Hand der Gerechten gesteinigt werden. So steht es geschrieben, als Warnung für alle, die die Gebote des Herrn missachten.»
    Trotz ihrer Schmerzen begannen Henrikas Mundwinkel zu zucken. Dann brach es aus ihr heraus wie Wasser aus einer geöffneten Schleuse. Sie schluchzte und lachte gleichzeitig. Ausgerechnet Agatha hatte ihr das Leben gerettet. Agatha Hahn, die sie verabscheute und mehr als einmal verwünscht hatte.
    Die Miene ihrer Pflegemutter blieb zunächst unbeweglich. Erst als sie die Hand ausstreckte, um Henrika vom Boden aufzuhelfen, glaubte diese einen Funken von Mitgefühl in den Augen der alten Frau zu sehen. Agatha ließ ihr indes keine Zeit, darüber nachzusinnen. Mit fester Stimme trug sie ihr auf, nach dem Kahn zu sehen, während sie einen Haufen Schnee zusammenraffte, um den leblosen Körper des Schuhmachers darunter verschwinden zu lassen. Dabei blieb sie so gelassen, als säße sie in ihrer Werkstatt und säumte Federhüte.
    Ein Schauder durchfuhr Henrika, während sie die Frau dabei beobachtete. Obwohl Agathas beherztes Eingreifen ihr das Leben gerettet hatte, konnte sie nicht verbergen, dass sie sich vor ihr fürchtete. Hatte Agatha ihr nicht noch vor wenigen Stunden vorgehalten, dass sie in ihren Augen eine Verworfene war? Eine Sünderin, welche das Feuer des Himmels verzehren würde? Nicht einmal die Tür des Wirtshauses hatte sie ihr öffnen wollen.
    «Warte hier auf mich», sagte Agatha, nachdem sie sämtliche Spuren der Steinigung beseitigt hatte. «Ich muss nach dem Pferd sehen.»
    «Welchem Pferd?»
    Die Alte bleckte ungeduldig die Zähne. «Ich habe den Gaul dieses Unholds hinter der Hütte am Schafgarten entdeckt und losgebunden. Er

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