Die Meisterin der schwarzen Kunst
leere Augen und das Geheimnis ihrer Mutter. Ihre Gedanken schienen wie kleine spitze Messer auf sie einzustechen.
Henrika biss die Zähne zusammen; mit Händen und Füßen kroch sie die Böschung hinunter. Der alte Steg unter den Bäumen konnte nicht mehr weit sein. Tatsächlich fand sie ihn bereits nach kurzem Suchen. Auch der Kahn war noch dort, mit einem dicken Seil an einem der Stützpfähle vertäut, die das Gewicht des Stegs trugen. Henrika hauchte ein paar Mal über ihre steifen Finger, dann legte sie sich auf den Bauch und robbte vorsichtig vor. Sie musste sich mit einer Hand am Pfahl festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während sie mit der anderen versuchte, den Knoten zu lösen. Dies schien unmöglich, denn der Knoten war mit einer Eisschicht überzogen und so hart, dass er sich nicht bewegen lassen wollte, so heftig Henrika auch an ihm zerrte. Vor Enttäuschung begann sie zu schluchzen. Früher hatte sie die Vertäuung viele Male gelöst und sich anschließend im Kahn tagträumend durch das seichte Gewässer des Altrheinarms treiben lassen. Nun aber bewegte sich nichts. Der Knoten saß fest. Um ihn zu lösen, benötigte sie eine Axt oder wenigstens ein Messer. Doch sie besaß weder das eine noch das andere.
Gerade wollte sie sich auf den Steg schwingen, um dort nach etwas Brauchbarem zu forschen, als plötzlich eine schwere, kalte Hand niederfuhr, sie im Genick packte und wie eine junge Katze auf den Steg zog. Der Schmerz in ihrem Rücken schoss wie ein Pfeil bis hinauf in ihre Stirn und ließ sie aufschreien.
«Ein schlauer Plan, mit einem alten Kahn über den Rhein zu flüchten», hörte sie Wilhelm Bunters heisere Stimme ganz nah an ihrem Ohr.
«Aber leider wirst du ihn begraben müssen. Jungfer Anna war so freundlich, mir einige Orte zu verraten, wohin du dich flüchten könntest. Sie ist ziemlich gewitzt, findest du nicht auch? Hat deine Gewohnheiten genau beobachtet.»
Er schleuderte sie in den Schnee wie einen leeren Mehlsack, dann stemmte er seinen Stiefel auf ihren Leib und grinste sie höhnisch an.
«Eigentlich nicht schlecht, dass ich dich hier erledigen kann. Im Schafgarten hätte ich erklären müssen, warum ich dich getötet und nicht in die Stadt zurückgebracht habe, damit du dem Richter vorgeführt werden kannst. Nun wirst du eben bei deinem vergeblichen Fluchtversuch daran glauben müssen. Niemand wird mir einen Vorwurf machen, weil ich nicht verhindern konnte, dass sich eine mörderische Hexe in den Fluss gestürzt hat.»
Henrika versuchte ruhig zu bleiben, aber als Bunter mit einem Stock ihren Rock bis über die Knie hochschob, entfuhr ihr vor Ekel ein Schnauben. Der Schuhmacher schien fest entschlossen, über sie herzufallen und ihr Gewalt anzutun, bevor er sie in den Rhein warf. Der anhaltende Schnee schien ihm nichts auszumachen. Henrika spürte die Kälte schon lange nicht mehr, im Gegenteil, sie ließ sie den ziehenden Schmerz in ihrem Rücken vergessen und verhinderte, dass sie die Besinnung verlor.
«Hast du den Festungsbaumeister umgebracht?», fragte sie. Sie musste versuchen, Zeit zu gewinnen. «Nun komm schon. Wenn mein Tod beschlossene Sache ist, dann kannst du mir auch sagen, wer es war und warum Anna dich dafür bezahlt, mich umzubringen.»
Einen Herzschlag lang schien Bunter mit sich zu ringen, aber dann zuckte er die Achseln. «Soweit ich weiß, war der vornehmen Dame die enge Beziehung zwischen dir und diesem Kerl ein Dorn im Auge. Sie will, dass du verschwindest.»
Bunter schleifte sie bis zum Rand des Wassers. Henrika schmeckte Schneeflocken auf ihren Lippen und sah zu ihrem Entsetzen die eisige Flut, die unter ihrem Kopf gegen die groben Steine des Ufers schlug. Bunter ließ sich vor ihr auf die Knie nieder, schob ihre Beine mit einer groben Bewegung auseinander und nestelte dann an seinem Gürtel herum. «Nun ist Schluss mit dem Palaver», sagte er, während er Henrikas Schultern zu Boden drückte. «Stell dich bloß nicht an, sonst friert mir der Arsch ab, und du verreckst am Fieber, bevor ich unser Stelldichein genießen konnte.» Rücksichtslos warf er sich auf sie, seine Hände griffen nach ihrem Mieder, kneteten ihre Brüste.
Henrika wehrte sich aus Leibeskräften. Sie strampelte schreiend mit den Beinen, trat und schlug um sich, sah aber bald ein, dass sie gegen den kräftigen Mann nicht die geringste Chance hatte. Ihre Gegenwehr erlahmte, und die Hoffnung verflog. Als sie sich in das Unvermeidliche fügen wollte, sauste ein Stein
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