Die Meisterin der schwarzen Kunst
grauen Feldsteinen umgeben und bestand aus einem windschiefen Fachwerkhaus mit Heuschober und einer Hütte. Hinter der Mauer lag ein Garten.
«Dort wohnt Priem. Ein merkwürdiger Kauz, aber gutherzig», erklärte Agatha. «Er wird dich aufnehmen, bis du in der Lage bist weiterzureisen.»
Meister Priem? Henrika hatte den Namen schon einmal gehört, aber es dauerte eine Weile, bis sie sich daran erinnerte, dass ihr Elisabeth von ihm erzählt hatte. Er war blind und besaß eine Schänke, in der angeblich lichtscheues Gesindel verkehrte.
Mit vereinten Kräften gelang es den Frauen, den Kahn ans Ufer zu manövrieren und an einem Pflock zu befestigen. Als sie endlich festen Boden unter den Füßen spürte, schossen Henrika vor Erleichterung die Tränen in die Augen, auch wenn ihr die Vorstellung, Zuflucht in der Behausung eines blinden Schankwirts zu suchen, nicht eben behagte. Sonderbarerweise schien Agatha, die in Mannheim selbst Elisabeths Gasthaus nur widerwillig betreten hatte, ihre Vorbehalte nicht zu teilen. Entschlossen schulterte sie eine der Satteltaschen, drückte Henrika die andere in die Hand und durchquerte dann mit schnellen Schritten den verschneiten Hof.
Henrika blickte sich verstohlen um, während sie durch den Schnee auf das Haus zustapfte. Drinnen schien niemand ihr Kommen bemerkt zu haben. Henrika fragte sich, ob Meister Priem allein lebte oder eine Frau hatte. Von Dienstboten, die sich um die Schänke des blinden Wirts kümmerten, war weder etwas zu sehen noch zu hören. Das kam ihr eigenartig vor. Immerhin hatte Elisabeth erwähnt, der Alte verfüge über ein beachtliches medizinisches Wissen und sei bei der Behandlung von Wunden und verschiedener Gebrechen geschickter als so mancher Baderchirurg.
Auf Agathas Klopfen öffnete ein kräftiger Mann, der auf Henrika den Eindruck machte, er sei aus einem der wuchtigen Bäume am Flussufer geschnitzt. Seine Haut, die das welke Fleisch seines Gesichts bedeckte, hing schlaff die Wangen herunter und war von so tiefen Furchen durchzogen, dass sie an die Rinde einer uralten Eiche erinnerte. Außer einigen dünnen Strähnen hatte er keine Haare mehr auf dem Kopf, dafür wucherte weißes Brusthaar aus dem Kragen seines Hemdes. Seine erloschenen Augen bedeckte ein Binde, die gewiss seit dem letzten Sommer keinen Waschtrog mehr gesehen hatte. Der Mann schien nicht viel von Wasser zu halten, was den strengen Geruch erklärte, der von ihm ausging.
Agatha begrüßte den Blinden betont höflich und bat ihn um ein Schlafquartier, eine warme Mahlzeit und seinen heilkundlichen Rat. Nur wenig später brodelte ein Topf mit dicker Hafersuppe über der Feuerstelle; ein würziger Duft nach Kräutern vertrieb den muffigen Geruch aus der Kammer.
Der Raum sah nicht wie eine Wirtsstube aus. Zum Schutz vor der Kälte hatte der Besitzer weiße und braune Schaffelle an die Wände genagelt. Über der Herdstelle, die einen trichterförmigen Abzug besaß, hing ein hölzernes Regal, auf dem verschiedene Glasbehälter mit getrockneten Kräutern und geschabten Rindenstücken standen. Es gab im ganzen Raum keinen Schanktisch mit Bechern und Krügen, wie Henrika es von Elisabeths Gasthaus gewohnt war, dafür zwei sauber abgehobelte Tische, einige Schemel und eine gepolsterte Ofenbank, auf der eine schwarz-weiße Katze schlief. Mühelos bewegte sich Priem an den Möbeln vorbei zum Herd, um noch ein Scheit nachzulegen.
«Nun wollen wir uns mal deine Wunde ansehen», verkündete der Blinde, nachdem die beiden Frauen gegessen hatten. Draußen auf dem Hof krähte ein Hahn, doch es war immer noch dunkel. «Das heißt, sehen können wir sie beide nicht. Du nicht, weil du auf dem Rücken keine Augen hast, und ich nicht, weil ich überhaupt keine mehr habe.» Er lachte heiser auf. «Dafür fühle ich recht gut.»
Henrika musste sich auf die Ofenbank legen, während Agatha die blutdurchtränkten Fetzen ihres Schnürkittels entfernte. In der Wärme des kleinen Raumes machten sich die durch Kälte und Anspannung unterdrückten Schmerzen wieder bemerkbar. Henrika war einer Ohnmacht nahe. Mit aller Kraft biss sie auf das Stück Holz, das Meister Priem ihr in den Mund geschoben hatte. Sie fürchtete sich vor den Berührungen der spinnenartigen Finger und hätte den Blinden und Agatha am liebsten hinausgeschickt, um ihr Lied zu singen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie sich selbst durch die Kraft der Melodie heilen konnte, aber da sie wusste, wie strikt ihre Pflegemutter diese Art des Heilens ablehnte,
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