Die Memoiren des Grafen
das Manuskript-Paket. Mit einem Seitenblick auf den unbeweglichen Rücken ging er sachte um den Tisch herum. Seine Hände zitterten, und seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Anthony betrachtete ihn genauer. Es war ein kleiner Mensch, geschmeidig wie alle Kellner, mit glattem, beweglichem Gesicht. Ein Italiener, dachte Anthony, kein Franzose.
Im kritischen Moment schnellte Anthony herum. Der Kellner schrak zusammen, gab sich aber den Anschein, ruhig den Tisch zu decken.
«Wie heißen Sie?», fragte Anthony kurz. «Giuseppe, Monsieur.»
«Italiener?»
«Jawohl, Monsieur.»
Anthony redete ihn in dieser Sprache an, und der Mann antwortete fließend. Endlich entließ Anthony ihn mit einem Nicken, aber während des Essens verfolgte ihn der Gedanke an diesen Giuseppe.
Sollte er sich geirrt haben? War das Interesse dieses Menschen an dem Manuskript nur reine Neugier? Das wäre möglich; aber wenn Anthony an die nervöse Spannung im Gesicht Giuseppes dachte, glaubte er nicht daran.
«Zum Kuckuck», murmelte er vor sich hin, «schließlich kann doch nicht jedermann hinter diesem verwünschten Manuskript her sein. Ich muss an Wahnvorstellungen leiden.»
Nachdem das Essen abgeräumt war, machte sich Anthony über die Memoiren. Die Schrift war so unleserlich, dass er nur langsam vorwärtskam, und er gähnte immer häufiger. Am Ende des vierten Kapitels gab er es auf.
Bis dahin hatte er die Memoiren tödlich langweilig und ohne jede Spur eines politischen Skandals gefunden.
Er ergriff die Briefe und den Umschlag des Manuskripts, die auf dem Tisch herumlagen, und verstaute beides in seinem Handkoffer. Dann verschloss er die Tür und stellte als zusätzliche Sicherheit noch einen Stuhl dagegen. Auf den Stuhl kam die Wasserflasche aus dem Badezimmer.
Seine Maßnahmen mit einigem Stolz betrachtend, zog er sich aus und ging zu Bett. Er nahm noch einmal die Memoiren zur Hand, doch als er merkte, dass ihm die Augen darüber zufielen, stopfte er die Blätter unter sein Kissen, löschte das Licht und schlief sofort ein.
Er mochte etwa vier Stunden geschlafen haben, als er mit einem Ruck auffuhr. Er hätte nicht sagen können, was ihn geweckt hatte – vielleicht ein Geräusch, vielleicht auch nur das Gefühl einer nahenden Gefahr, wie es vielen Menschen eigen ist, die ein abenteuerliches Leben führen.
Einen Augenblick lag er still und versuchte, seine Eindrücke zu sammeln. Er konnte ein leises Rascheln im Zimmer feststellen, und dann empfand er auch eine verstärkte Dunkelheit irgendwo zwischen seinem Bett und dem Fenster – am Boden neben seinem Handkoffer.
Mit einem plötzlichen Sprung war er aus dem Bett und zündete gleichzeitig das Licht an. Eine kniende Gestalt fuhr in die Höhe: der Kellner Giuseppe. Er stürzte sich auf Anthony, der sich erst jetzt der Gefahr richtig bewusst wurde. Er war unbewaffnet, und Giuseppe wusste mit dem Messer umzugehen.
Anthony warf sich zur Seite, und das Messer verfehlte sein Ziel. In der nächsten Sekunde wälzten sich die beiden Männer eng umklammert auf dem Boden. Anthony konzentrierte sich darauf, den rechten Arm Giuseppes festzuhalten, damit dieser keinen Gebrauch von dem Messer machen konnte. Langsam drehte er den Arm des Italieners nach hinten. Gleichzeitig aber fühlte er an seiner Kehle den Griff des andern, der ihm die Luft abzudrücken drohte. Doch immer noch hielt er verzweifelt den Arm fest.
Man hörte ein scharfes Klicken, als das Messer zu Boden fiel.
Doch im gleichen Moment befreite sich der Italiener von Anthonys Griff und sprang auf. Auch Anthony fuhr in die Höhe, aber er machte den Fehler, sich gegen die Türe zu wenden, um dem andern den Rückzug abzuschneiden. Zu spät sah er, dass Stuhl und Wasserflasche noch genauso dastanden wie zuvor. Giuseppe war durchs Fenster eingedrungen, und zum Fenster wandte er sich auch jetzt wieder. In der kurzen Frist, die Anthonys Bewegung zur Tür ihm gab, sprang er auf den Balkon, schwang sich zum nächsten Zimmer hinüber und verschwand durch das Fenster.
Anthony war klar, dass es keinen Zweck hatte, ihn zu verfolgen. Der Italiener hatte seinen Rückzug gut vorbereitet. Anthony hätte sich nur selbst in neue Schwierigkeiten gebracht.
Er ging zum Bett, steckte seine Hand unter das Kissen und zog die Memoiren hervor. Ein Glück, dass sie dort lagen und nicht im Koffer! Er ging zu diesem zurück und wollte die Briefe hervorholen.
Aber dann fluchte er leise.
Die Briefe waren verschwunden!
6
E s war genau fünf
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